Auf einen Blick
«Mach doch das Gymnasium, dann steht dir alles offen.» Den Satz haben Generationen Schweizer Schülerinnen und Schüler einmal gehört. Im Februar endet in Kantonen mit Aufnahmeprüfung die Anmeldefrist fürs Gymnasium respektive die Kantonsschule. Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren.
Doch die eigentliche Herausforderung beginnt im Sommer, wenn das neue Schuljahr startet. Dann zeigt sich auch bei Schülern, die keine Prüfung absolvieren mussten, ob der Übertritt die richtige Entscheidung war.
Psychologe und Lernberater Fabian Grolimund (46) begegnet in seinen Coachings immer wieder Jugendlichen, die am Gymnasium fehl am Platz sind – und später jahrzehntelang mit den Folgen kämpfen.
Blick: Herr Grolimund, wann passt ein Kind ins Gymnasium?
Fabian Grolimund: Die Frage müsste lauten: «Wann passt das Gymnasium zu einem Kind?» Aus meiner Sicht ist das der Fall, wenn es die nötigen Leistungen erbringen kann, ohne dafür ein Manager-Pensum aufwenden zu müssen. In meinen Lerncoachings begegne ich immer wieder Eltern, die sehr viel Druck aufsetzen.
Was raten Sie?
Sich zu fragen, wie leicht dem eigenen Kind das Lernen fällt und wie es sich dabei fühlt. Lehrkräfte können diese Fragen manchmal besser beantworten. Deshalb ist es wichtig, ihren Einschätzungen gegenüber offen zu sein. Ich erlebe immer wieder, dass Eltern eine Rückmeldung wie «Ich sehe es nicht im Gymnasium» als Abwertung ihres Kindes empfinden.
Viele Eltern wollen nicht eines Tages zu sich sagen müssen: «Hätte ich doch mehr Druck gemacht!»
Ich kann diese Sorge nachvollziehen. Doch ein Kind ist dann am erfolgreichsten, wenn es etwas machen kann, das ihm zusagt. Was viele Eltern auch nicht bedenken: dass der Besuch des Gymnasiums Jugendlichen Chancen verbauen kann.
Wie meinen Sie das?
In Seminaren, die ich mit Studierenden zum Beispiel zum Thema Prokrastination abhalte, treffe ich oft auf Studierende um die dreissig, die karrieretechnisch sehr viel weiter wären, wenn sie eine Lehre gemacht hätten. Stattdessen bleiben sie jahrelang in einem Studium hängen, das sie nicht interessiert und mit dem sie keine guten Berufsaussichten haben, weil sie keinen guten Notendurchschnitt erreichen und ihnen das Herzblut fehlt.
Warum studieren sie überhaupt?
Wenn sich jemand mit viel Mühe durchs Gymnasium gekämpft hat und die Eltern viel Zeit und Geld dafür geopfert haben, braucht es sehr viel Mut und Selbstbewusstsein, sich danach trotzdem für eine Lehre zu entscheiden. Oft heisst es: Jetzt hast du schon die Matura geschafft, da wäre es doch schade, wenn du nicht studierst!
Psychologe Fabian Grolimund (46) leitet gemeinsam mit der Psychologin Stefanie Rietzler die Akademie für Lerncoaching mit Sitz in Zürich und einem breiten Angebot an Onlinekursen. Das Weiterbildungsinstitut bietet unter anderem Fortbildungen für Eltern und Lehrkräfte zum Thema Lernen an, insbesondere zur Unterstützung von Kindern mit Herausforderungen wie Lese-Rechtschreib-Schwäche oder ADHS. Grolimund und Rietzler sind Autoren von Sachbüchern und Kinderbüchern zu psychologischen Themen. Grolimund lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in Freiburg.
Psychologe Fabian Grolimund (46) leitet gemeinsam mit der Psychologin Stefanie Rietzler die Akademie für Lerncoaching mit Sitz in Zürich und einem breiten Angebot an Onlinekursen. Das Weiterbildungsinstitut bietet unter anderem Fortbildungen für Eltern und Lehrkräfte zum Thema Lernen an, insbesondere zur Unterstützung von Kindern mit Herausforderungen wie Lese-Rechtschreib-Schwäche oder ADHS. Grolimund und Rietzler sind Autoren von Sachbüchern und Kinderbüchern zu psychologischen Themen. Grolimund lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in Freiburg.
Nachhilfeunterricht boomt. Was halten Sie davon?
Nachhilfe in einem einzelnen Fach über eine begrenzte Zeit kann sehr hilfreich sein. Schwierig wird es, wenn Nachhilfe quasi vorausgesetzt wird. Es ist zum Beispiel eher die Ausnahme, wenn eine Schülerin oder ein Schüler die Prüfung fürs Gymnasium in Zürich macht, ohne davor einen privaten Vorbereitungskurs absolviert zu haben. Auch Angebote für Kurse in den Sommerferien, in denen Schülerinnen und Schüler zum Teil mehrere Wochen Defizite in Fächern wie Mathematik oder Französisch aufholen sollen, schiessen wie Pilze aus dem Boden. Oft bleibt den Jugendlichen dann zu wenig Zeit, um sich zu erholen.
Nachhilfe kostet – das müssen sich Eltern leisten können.
Oder sie lernen mit ihren Kindern zu Hause. Ich erlebe Eltern, für die es zu einer Art Nebenjob geworden ist, zum Teil schon in der 1. Klasse mit dem Kind für einen sehr guten Notendurchschnitt zu lernen. In der Primarschule funktioniert das noch, weil die Kinder weniger Unterricht und Hausaufgaben haben. Am Gymnasium mit seinen 35 Unterrichtsstunden pro Woche plus Hausaufgaben merken diese Kinder dann oft, dass sie mit demselben Aufwand an elterlicher Unterstützung nicht einmal mehr genügend sind.
Wie reagieren die Eltern?
Manche lernen noch mehr mit den Kindern und organisieren so viel Nachhilfeunterricht wie möglich. Es ist aber für das Selbstwertgefühl sehr schädlich, wenn ein Kind merkt: Ich muss um jede Note kämpfen und bin trotz Maximaleinsatz immer nur knapp genügend.
Auch eine Matur, die man mit Ach und Krach schafft, ist eine Matur.
Wenn ein Kind nur noch am Schreibtisch sitzt und es im Leben nichts anderes mehr gibt als die nächste Prüfung, stimmt die Balance nicht mehr. Kindheit und Jugend sollen ja auch etwas sein, an das man sich im Nachhinein gerne zurückerinnert.
Sollten Eltern bescheidener werden, wenn es um die Einschätzung der Fähigkeiten ihrer Kinder geht?
Ich glaube, es geht eher darum, dass wir als Eltern erkennen, dass es unserem Kind langfristig am besten geht, wenn es etwas tun darf, das zu seinen Fähigkeiten und Interessen passt. Dazu müssen wir uns von fixen Vorstellungen lösen. Zudem gibt es unzählige Möglichkeiten, falls ein Kind später merkt, dass der eingeschlagene Bildungsweg doch nicht der richtige war.
Lernen wird mit zunehmendem Alter anspruchsvoller.
Wenn man es aus eigenem Antrieb und mit einem klaren Ziel vor Augen macht, ist man trotzdem erfolgreich.