Bitte nicht «Schnäggli» oder «Pfiffeli»
«Kinder sollten die korrekte Bezeichnung der Geschlechtsteile kennen»

Sexuelle Aufklärung ist für die meisten Eltern eine grosse Herausforderung. Wann und wie soll man das Thema ansprechen? Welche Regeln gelten bei «Doktorspielen»? Und welche Fehler gilt es zu vermeiden? Sexualpädagogin Tina Reigel weiss Rat.
Publiziert: 18.01.2025 um 11:20 Uhr
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Aktualisiert: 18.01.2025 um 15:30 Uhr
Man darf schon mit kleinen Kindern ehrlich über Sexualität sprechen. Aufklärung hilft auch bei der Prävention von Missbrauch.
Foto: Getty Images

Auf einen Blick

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Fabienne EichelbergerFreie Journalistin Service-Team

Tina Reigel, wie sollten Eltern Geschlechtsteile vor dem Kind benennen?
Mit der korrekten Bezeichnung – und zwar bereits auf dem Wickeltisch. «Vulva» für das weibliche Genital und «Penis» und «Hoden» für das männliche. Es ist wichtig, ein Wort für diese Körperteile zu haben – und zwar das richtige und nicht etwa «Schnäggli», «Zwätschgeli», «Pfiffeli» oder «Zipfeli». Für das Ohr erfinden wir schliesslich auch keine anderen Namen.

Was, wenn das Kind selbst eine eigene Bezeichnung für sein Geschlechtsteil verwendet?
Das ist etwas anderes. Hört ein Mädchen etwa einen Jungen sagen, dass er ein «Zipfeli» habe, und nennt dann sein Geschlechtsteil «Zipfelina», kann das in dem Moment ein positives Gefühl geben. Es handelt sich um eine Form von Selbstbestimmung: Ich habe einen Körperteil und ich gebe dem einen Namen. Dann können die Eltern zum Beispiel sagen: «Das ist okay, aber ich nenne deine Zipfelina ‹Vulva›.» Kinder dürfen ihre Geschlechtsteile nennen, wie sie wollen, sollten aber die korrekte Bezeichnung kennen.

Weshalb ist das wichtig?
Es schafft Klarheit auf der Körperlandkarte, verhindert sprachliche Missverständnisse und hilft bei der Prävention von Übergriffen. Indem Kinder ihre Genitalien nicht als etwas Schambehaftetes betrachten und Worte dafür haben, fällt es ihnen leichter, über sie zu sprechen. Interessanterweise sind oft die Erwachsenen irritiert, wenn ein Kind von der «Vulva» oder dem «Penis» spricht. Viele denken dann: «Ui, das Kind kennt ja schon Wörter …» Dabei haben die Kinder diese Wörter genauso gelernt, wie sie die Bezeichnungen «Nase» oder «Bein» lernen. Viele Erwachsene verbinden die Wörter «Vulva» und «Penis» gedanklich rasch mit Geschlechtsverkehr und der erwachsenen Sexualität. Kinder sehen darin einfach Körperteile. 

Tina Reigel (38) von Littlefellow.ch ist Sozial- und Sexualpädagogin und bietet Elternbildungsreferate sowie Onlinekurse an wie «Wickeltisch-Basics – sexualpädagogische Basics zur kindlichen Entwicklung im Alter von 0 bis 3 Jahren» oder «Körpererkundungsspiele – was heisst das und wie gehe ich damit um».
Foto: zVg

Wie sollten Eltern reagieren, wenn sich ein Kind immer wieder zwischen die Beine fasst?
Grundsätzlich ist es in Ordnung und etwas Schönes, seinen eigenen Körper zu berühren. Allerdings darf das Kind lernen, dass dies etwas Privates ist und nicht für öffentliche Situationen bestimmt.

Was müssen Eltern zum Thema Doktorspiele wissen?
Sie dienen der selbstbestimmten, kindlichen Aneignung von körperlich-sinnlichem Erleben. Meist beginnen Kinder etwa im Alter von drei oder vier Jahren damit – wobei ich lieber von Körpererkundungsspielen spreche, weil es eben nicht nur ein klassisches «Dökterle» mit einem Ärzteköfferchen ist. Sie können auch im Rahmen von anderen Rollenspielen wie «Familie», «Heiraten» oder gemeinsamen WC-Besuchen stattfinden. Wichtig ist, dass die Eltern diese Körpererkundungsspiele begleiten, Rahmenbedingungen abstecken und mit den Kindern Regeln besprechen.

Zum Beispiel?
Die spielenden Kinder sollten ungefähr im selben Alter sein und es darf kein Machtgefälle vorliegen. Mehr als zwei Jahre Altersunterschied ist zu viel. Alle Kinder sind freiwillig dabei und wissen, dass sie das Spiel verlassen dürfen, wenn ihnen nicht mehr wohl ist. «Nein» heisst «nein», und Hilfe holen ist immer erlaubt. Eltern empfehle ich, in Hörweite zu bleiben, damit sie mitbekommen, wenn ein Kind nicht mehr mitmachen möchte.

Wie lernen Kinder, zu erkennen, wann ihre Grenzen überschritten werden?
Unter anderem durch Vorleben. Zum Beispiel, indem sie in Alltagssituationen sagen: «Diese Berührung am Arm fühlt sich für mich nicht gut an. Das kratzt, bitte lass das.» Ein spielerischer Zugang könnte Kinderschminke sein: Das eine Kind findet das Gefühl des feinen Pinselchens im Gesicht angenehm, ein anderes überhaupt nicht. Auf Letzteres können Eltern reagieren und sagen: «Ich sehe, du willst nicht mit dem Pinsel geschminkt werden, und das ist in Ordnung.» Damit leistet man bereits einen Beitrag zur Prävention von Übergriffen. Auch übergriffiges Verhalten von anderen, beispielsweise an einem Familienfest, sollte man nicht ignorieren. Möchte ein Kind der Tante kein Küsschen geben, darf man dies als Eltern so kommunizieren. 

Wie kann man ein Kind vor sexuellen Übergriffen schützen?
Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es leider nicht. Wichtig ist, dass Kinder wissen, dass ihre Eltern oder andere Vertrauenspersonen ihnen glauben, ihnen zuhören und sie mit ihnen über alles sprechen können. Auch über vermeintliche Geheimnisse. Kinder sollen wissen, dass es nie schlimm ist, ein Geheimnis auszuplaudern. Vor allem ist aber auch sexuelle Aufklärung Prävention. Stellen Kinder Fragen zum Thema Geschlechtsverkehr, kann man ihnen nicht nur alters- und entwicklungsgerecht erklären, was dabei passiert, sondern auch darauf hinweisen, dass das etwas ist, das nur Erwachsene miteinander machen.

Welche Fehler sollten Eltern bei der Aufklärung vermeiden?
Sie sollten nicht in einen Überaktionismus verfallen. Es muss nicht bis zu einem Tag x alles zum Thema Sexualität besprochen sein, und sie brauchen ihren Kindern auch nicht unzählige Bücher zu zeigen – es ist vielmehr ihre Erziehungshaltung, die zählt. Die sexuelle Entwicklung beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod. Sie bleibt also ein lebenslanges Lernfeld. Gleichzeitig reicht es nicht aus, das Thema erst in der Pubertät anzusprechen. Das entspräche dem veralteten Bild, dass Sexualität erst mit der Möglichkeit auf Fortpflanzung relevant wird und man seinen Nachwuchs hauptsächlich vor übertragbaren Infektionen und einer ungewollten Schwangerschaft schützen will. Ganzheitliche Sexualaufklärung beinhaltet aber viel mehr als das – auch Erwachsene lernen noch einiges dazu.

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