Auf einen Blick
Melina Dobroka, viele Schweizerinnen und Schweizer geben bei Umfragen an, gern mehr Sex zu haben. Sie sagen aber gleichzeitig, sie seien zufrieden mit ihrem Sexleben. Wie erklären Sie sich das?
Melina Dobroka: Ein Wunsch nach etwas bedeutet ja nicht, dass man per se unzufrieden mit der jetzigen Situation ist, sondern lediglich, dass man sie vielleicht noch verbessern könnte. Natürlich spielen Social Media und andere Medien eine grosse Rolle. Man wird ständig mit dem Thema konfrontiert und hat das Gefühl, dass alle immer Sex haben. Und dass mehr besser ist.
Ist es das nicht?
Die Frage ist: mehr wovon? Wonach sehnen wir uns wirklich? Nach dem Akt selbst oder eher nach Intimität und Nähe? Dass uns Letzteres guttut, auch körperlich, ist unbestritten.
Warum haben wir denn nicht einfach mehr Sex? Was hindert uns daran?
Ich habe das Gefühl, die Leute hätten am liebsten eine Pille, die sie einwerfen könnten – und zack, ist das Begehren und mit ihm das grossartige Sexleben da. Unser Alltag mit Zeitdruck und Stress in der Familie und im Job ist leider für sehr viele ein Lustkiller.
Wir wünschen uns also in erster Linie nicht mehr Sex, sondern mehr Lust darauf?
Das hängt ja zusammen, aber ich mache in meiner Praxis wirklich die Erfahrung, dass sehr viele Menschen Probleme mit Lust und Begehren haben. Sie können schlecht abschalten, Probleme ausblenden, sind müde …
… Was in einem vollgepackten Alltag zwischen Job und Familie kein Wunder ist. Da kann man es niemandem verübeln, dass man nach einem langen Tag einfach nur noch schlafen will.
Wer sagt denn, dass Sex immer abends stattfinden muss? Es würde sich vielleicht lohnen, einmal etwas anderes auszuprobieren – zum Beispiel eben Sex bei Tageslicht. Auch wenn manche Frauen dafür wohl über ihren Schatten springen müssen.
Warum?
Uns wird ein total unrealistisches Körperbild eingeimpft. Viele Frauen haben ein negatives Verhältnis zu ihrem eigenen Körper, was einen grossen Einfluss auf ihre Sexualität hat.
Melina Dobroka (38) ist Sexologin und Pädagogin mit eigener Praxis in Basel. Sie ist Vorstandsmitglied des Fachverbandes Sexologie Schweiz FSS. Der Verband setzt sich für gesellschaftliches und wissenschaftliches Ansehen der Sexologie als Berufsstand ein, und fördert die Verbreitung und Umsetzung von sexueller Gesundheit und Rechten.
Melina Dobroka (38) ist Sexologin und Pädagogin mit eigener Praxis in Basel. Sie ist Vorstandsmitglied des Fachverbandes Sexologie Schweiz FSS. Der Verband setzt sich für gesellschaftliches und wissenschaftliches Ansehen der Sexologie als Berufsstand ein, und fördert die Verbreitung und Umsetzung von sexueller Gesundheit und Rechten.
Gilt das auch für Männer?
Männer stehen zwar ebenfalls unter Druck, was ihr Körperbild betrifft, aber auf ihre Sexualität hat das nicht so einen grossen Einfluss wie bei Frauen. Sie machen sich eher Sorgen um ihre Leistung im Bett. Dabei schürt der Pornokonsum bei vielen Männern Druck, performen zu müssen und dabei für den Orgasmus ihres Gegenübers zuständig zu sein. Es entsteht eine gewisse Hilflosigkeit, welche zu Erektionsschwierigkeiten oder anderen Funktionsstörungen führen kann.
Führt dieser Druck, der auf uns allen lastet, dazu, dass wir gar nicht wirklich mehr Sex wollen, sondern dass wir denken, dass wir mehr Sex wollen?
Das kann gut sein. Das Thema ist omnipräsent, und wir reden ständig darüber, aber nie auf einer persönlichen, realen Ebene. Das führt dazu, dass wir ein extrem verzerrtes Bild von Sex haben.
Was wäre denn ein richtiges Bild?
Es geht nicht um richtig oder falsch, sondern um realistisch. Sexualität gehört zu uns als Menschen, weil wir sexuelle Wesen sind. Sexualität sollte frei von festen Vorstellungen sein, da uns diese meist unter Druck setzen.
Qualität ist also wichtiger als Quantität?
Ich finde schon, ja. Dass wir trotzdem vor allem «mehr Sex» wollen, liegt vielleicht daran, dass dies einfacher zu definieren ist als «besserer Sex».
Da landet man immer wieder bei der gleichen Frage: Was ist guter Sex?
Der Schlüssel ist Kommunikation. Frauen kennen ihre Wünsche oft selbst nicht so genau, oder sie gestehen sie sich selbst nicht ein. Beim Sex braucht es eben auch Aufmerksamkeit, Mut und eine Prise Humor. Das Wichtigste scheint mir jedoch, dass Sexualität ein Leben lang verändert und gelernt werden kann. Dabei ist die Art und Weise, wie Menschen sich selbst berühren und befriedigen, oftmals nicht mit der Paarsexualität kompatibel oder vergleichbar. Männer hingegen trauen sich nicht, ihrer Partnerin konkret zu sagen, was sie sich wünschen, weil sie Angst vor Ablehnung haben. Offenheit würde sehr viel ausmachen. Übrigens auch wenns um Lustlosigkeit geht, gerade bei Männern. Das ist ein riesiges Tabu.
Dass man in einer langjährigen Beziehung nicht mehr so oft Lust auf Sex hat wie am Anfang, ist ja aber normal, oder?
Das stimmt, und es ist auch nicht unbedingt ein Problem. Die Chance, dass immer beide Beteiligten gleich viel oder gleich wenig Lust haben, ist halt gering. Dann muss man verhandeln, wie bei anderen Dingen in der Beziehung auch. Wenn das Ungleichgewicht allerdings so gross ist, dass bei jemandem oder beiden ein Leidensdruck entsteht, ist eine therapeutische Beratung empfehlenswert.
Ist denn Sex wirklich so wichtig für eine Beziehung?
In einer Liebesbeziehung ist Sex eine Abgrenzung zu anderen Beziehungsformen und kann als Ressource fundamental sein. Durch den Körperkontakt entsteht mehr Achtsamkeit füreinander, und er stellt einen zufrieden. Dabei sind Verbundenheit, Intimität und Präsenz viel zentraler als Technik und Orgasmus.
Wenn Verbundenheit und Intimität die Kriterien für guten Sex sind – haben dann Singles schlechten Sex?
(lacht) Ich wage, zu behaupten, dass das Grundbedürfnis das gleiche ist. In Kurzbeziehungen konzentrieren sich Verbundenheit und Intimität eher auf den Moment. Der Vorteil als Single ist, dass sporadische Treffen tollen Sex ohne Verpflichtungen ermöglichen.
Wie kommt man denn als Single zu mehr oder zu besserem Sex?
So wie in einer Beziehung auch: durch Ehrlichkeit und offene Kommunikation. Das kann übrigens sogar einfacher sein als in einer Beziehung: Die Angst vor Ablehnung ist vielleicht nicht ganz so gross, wenn es nicht um eine Person geht, mit der man den Alltag und das Leben teilt.