Psychiaterin Anna Lembke über unser Leben im Dopamin-Überfluss
«Ich war süchtig nach Erotik-Romanen»

Wir leben in einer Welt, die uns zu Abhängigen macht, sagt die amerikanische Psychiaterin und Bestsellerautorin Anna Lembke (54). Sie selbst hat das am eigenen Leib erfahren.
Publiziert: 25.07.2022 um 17:21 Uhr
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Anna Lembke auf dem Anwesen der Universität Stanford in Kalifornien, wo die Amerikanerin als Professorin und Psychiaterin arbeitet.
Foto: Steve Fisch
Interview: Jonas Dreyfus

Frau Lembke, Sie waren süchtig nach Erotik-Romanen. Wie hat sich das geäussert?
Anna Lembke:
Indem ich immer mehr Zeit damit verbrachte, immer billigere und explizitere Inhalte zu konsumieren.

Fiel das nicht auf?
Niemand sieht, was man liest, wenn man – wie ich – einen E-Reader verwendet. Das Gerät versorgte mich konstant mit Nachschub. Ich begann, meinen Mann und meine Kinder zu vernachlässigen. An Hauspartys stahl ich mich davon und suchte ein Zimmer, in dem ich mich verstecken konnte, um meinem Laster zu frönen. Der Tiefpunkt war für mich erreicht, als ich sogar in den zehn Minuten Pause zwischen zwei Patienten ein paar Seiten verschlang.

Als Psychiaterin behandeln Sie seit dreissig Jahren Suchtkranke und schreiben Sachbücher darüber, wie Sucht im Hirn entsteht. Warum sind Sie trotzdem in die Falle getappt?
Weil unsere Welt darauf ausgerichtet ist, uns süchtig zu machen. Oder anders formuliert: Unser Hirn ist nicht für den Überfluss an Konsummöglichkeiten konzipiert, die uns heute zur Verfügung stehen.

Spezialistin für Suchtverhalten

Anna Lembke (54) ist Professorin für Psychiatrie und Suchtmedizin an der kalifornischen Universität Stanford und Leiterin der dazugehörenden Klinik für Suchtkranke, wo sie seit Jahrzehnten Patienten behandelt. Die Tochter von Deutschen, die in den 60er-Jahren in die USA immigrierten, schaffte es mit ihrem Sachbuch «Die Dopamin-Nation» – neu erhältlich auf Deutsch – auf die Bestseller-Liste der «New York Times» und veröffentlichte mit dem Vorgänger «Drug Dealer, MD» eine vielbeachtete Einordnung zur Opioid-Krise in den USA. Lembke hat vier Kinder und wohnt mit ihrem Mann in Palo Alto im Silicon Valley.

Anna Lembke (54) ist Professorin für Psychiatrie und Suchtmedizin an der kalifornischen Universität Stanford und Leiterin der dazugehörenden Klinik für Suchtkranke, wo sie seit Jahrzehnten Patienten behandelt. Die Tochter von Deutschen, die in den 60er-Jahren in die USA immigrierten, schaffte es mit ihrem Sachbuch «Die Dopamin-Nation» – neu erhältlich auf Deutsch – auf die Bestseller-Liste der «New York Times» und veröffentlichte mit dem Vorgänger «Drug Dealer, MD» eine vielbeachtete Einordnung zur Opioid-Krise in den USA. Lembke hat vier Kinder und wohnt mit ihrem Mann in Palo Alto im Silicon Valley.

Warum nicht?
Das Hirn hat während Millionen von Jahren gelernt, Genuss anzustreben und Schmerz zu vermeiden. So konnten Menschen in einer Welt überleben, in der Lebensmittel knapp waren und überall Todesgefahr lauerte. Heute, wo uns praktisch alles, was wir wollen, griffbereit zur Verfügung steht, wird unser Hirn täglich von Glückshormonen überflutet. Das beginnt am Morgen, wenn wir mithilfe von koffeinhaltigen Getränken wach werden und erstmals unser Smartphone checken, und endet abends, wenn wir auf dem Sofa jede Serie streamen können, die wir wollen.

Was ist daran schlecht?
Freude führt unausweichlich zu seelischem Schmerz. Jeder kennt das kurze Gefühl der Traurigkeit, wenn wir zum Beispiel ein Dessert fertig gegessen haben. Das ist eine körperliche Reaktion darauf, dass unser Hirn den Überfluss an Glückshormonen ausbalanciert. Wir haben dafür im Englischen diese Redewendung: Was hinaufgeht, kommt auch wieder herunter. Wenn wir jetzt ein weiteres Dessert bestellen und noch eines und noch eines, sind wir irgendwann süchtig.

Ich habe mich bei der Lektüre Ihres Buches «Die Dopamin-Nation» gefragt, ob ich vielleicht mal aufhören sollte, mir auf Instagram lustige Videos anzusehen. Ich habe während der Pandemie damit begonnen, weil es mich entspannt hat. Mittlerweile tut es das nicht mehr. Und trotzdem bin ich sofort damit beschäftigt, wenn ich mal nichts zu tun habe. Es geschieht automatisch.
Am Anfang haben Sie sich die lustigen Videos angesehen, weil Sie sich dadurch gut fühlten. Jetzt konsumieren Sie sie, damit Sie sich nicht schlecht fühlen. Das ist typisch für zwanghaftes Konsumieren. Hat Ihre Angewohnheit negative Konsequenzen für Sie und Ihr Umfeld?

Bis jetzt noch nicht.
Dann haben Sie im Moment noch einen milden Suchtverlauf. Sie sollten aber unbedingt eine Pause einlegen, damit der Hormonhaushalt im Hirn einen Neustart machen kann. Meiner Erfahrung nach dauert das mindestens einen Monat.

Sie nennen das Dopamin-Fasten. Es klingt so einfach.
Es ist klar, dass es bei einer schweren Sucht mehr braucht als einen Monat Abstinenz. Mein Ziel ist es, mit meinen Büchern das Bewusstsein dafür zu wecken, wie zwanghaftes Konsumverhalten im Hirn entsteht. Ich will die Menschen dazu ermutigen, aufgrund dieses Wissens Massnahmen zu ergreifen. Im Gegensatz dazu geht es in der Psychotherapie darum, vertieft zu verstehen, warum wir etwas tun. Das ist eine wichtige Arbeit. Wir können aber nicht abwarten, bis diese Erkenntnis eintrifft, und auch nicht das Gefühl haben, dass wir unser Verhalten dann automatisch ändern.

Umfragen in Industrienationen zeigen, dass Wohlstand nicht zwingend zu glücklicheren Bürgern führt. Woran liegt es?
Oftmals werden das Wohlstandsgefälle und Aspekte wie soziale Entwurzelung dafür verantwortlich gemacht. Was mir in dieser Diskussion fehlt, ist die Tatsache, dass der Überfluss an sich ein Stressfaktor für uns darstellt. Heute lässt sich fast alles wie eine Droge konsumieren. Auch menschliche Beziehungen.

Wie meinen Sie das?
Ein gutes Beispiel dafür sind soziale Medien. Ihre Mechanismen sind ähnlich wie beim Glücksspiel. Wenn wir etwas posten und dafür viele Likes erhalten, wird unser Hirn mit Glückshormonen überflutet. Bleibt die positive Resonanz beim nächsten Mal aus oder fällt sie spärlicher aus, sind wir umso motivierter, es weiterhin zu versuchen. Das ist ähnlich wie bei einem Spielsüchtigen, der einem Gewinn hinterherjagt. Unser kapitalistisches System hat längst kapiert, wie man aus fast allem eine Droge macht, von der die Leute mehr wollen.

Wie schützen Sie sich davor, nicht zur Sklavin Ihres Smartphones zu werden?
Ich bin da ziemlich strikt. Meines liegt meistens ausgeschaltet in meiner Tasche. Meine Kinder durften erst eines haben, als sie in die Oberstufe kamen, und sie bezahlen ihre Abos selbst. Ab und zu machen wir technikfreie Ferien. Letzten Winter waren wir zum Beispiel auf Hawaii. Diesen Herbst begehen wir einen Teil des Jakobswegs in Spanien, und niemand nimmt ein Gerät mit. Man muss sich dann wirklich miteinander beschäftigen und kann sich nicht einfach mit seiner Lieblingsserie zurückziehen, sobald der Gesprächsstoff ausgeht.

Was, wenn Sie einen Notfall haben und niemanden anrufen können?
Das macht mir keine Sorgen. Mobiltelefone können ein falsches Gefühl von Sicherheit vermitteln. Wie oft müssen Menschen in der Wildnis gerettet werden, weil sie ihren Trip nicht gut genug planen und denken: Wenn etwas schiefgeht, habe ich ja das Telefon dabei.

Sprechen wir über eine Patientengeschichte aus Ihrem Buch: Michael hat seine Alkohol- und Kokainsucht überwunden. Seit er clean ist, badet er zwei Mal täglich in Eiswasser und beschreibt den Effekt wie die Wirkung von Ecstasy. Was passiert da im Gehirn?
Wenn wir etwas tun, das psychisch oder körperlich anstrengend ist oder wehtut, reagiert das Hirn wie auf eine drohende Verletzung, indem es Hormone ausschüttet, die ein gutes Gefühl erzeugen. Es funktioniert also auch umgekehrt: Schmerz führt zu Freude.

Das klingt nicht unbedingt gesund.
Man kann nach Schmerz süchtig werden, wenn man es übertreibt. So wie Michael mit seinen Eisbädern oder eine andere Patientin von mir, die so viel rannte, dass ihre Beine brachen.

Zusammenfassend: Was können wir tun, um in einer Welt des Überflusses eine Balance zu finden?
Pausen einlegen, wenn wir konsumieren, ist etwas vom Wichtigsten. Wir müssen wieder lernen, uns zu langweilen, und uns mit dem Gedanken anfreunden, dass es normal ist, ab und zu traurig zu sein. Es geht darum, Frustration, Angst und existenzielle Krisen auszuhalten und zu beobachten, wie es einem dabei geht, ohne uns mit etwas anderem abzulenken.

Schämen Sie sich rückblickend für Ihre Lesesucht?
Schon ein wenig. Scham ist ein wichtiges Gefühl, wenn es darum geht, unser Verhalten zu ändern. Wenn uns nichts unangenehm gegenüber anderen wäre, hätten wir wenig Motivation, etwas zu ändern.

Wie schwer war es, aufzuhören?
Ich war schockiert darüber, wie hart es war, litt unter Ängsten und Schlafproblemen. Gleichzeitig hat sich mein Gewissen laut bei mir gemeldet: Du wolltest doch diesen alten Bekannten anrufen. Was ist mit der Dankeskarte, die du noch nicht geschrieben hast, oder damit, dass du deinem Mann versprochen hast, den Schrank im Keller aufzuräumen?

Wie lange hat es gedauert, bis Sie «clean» waren?
Nach einem Monat dachte ich, dass ich wieder moderat mit dem Konsumieren von Erotik-Romanen anfangen kann – mit dem Ergebnis, dass ich ein ganzes Wochenende lang durchlas. Dann habe ich ein ganzes Jahr gar keine Bücher mehr angerührt. Heute kann ich wieder normal lesen. Doch erotische Romane haben für mich den Reiz verloren.

Warum sind Sie eigentlich Psychiaterin geworden?
Das ist eine lange Geschichte. Es liegt wohl vor allem daran, dass ich in einer Familie aufwuchs, deren Mitglieder schwere psychische Probleme hatten. Meine Schwester litt an einer bipolaren Störung, mein Vater und mein Onkel kämpften mit Alkoholproblemen. Während des Medizinstudiums habe ich gemerkt, dass ich an langfristigen Beziehungen zu Patienten interessiert bin und ihnen nicht unbedingt helfen möchte, möglichst lange, sondern möglichst glücklich zu leben.

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