Barack Obama (58) hat es getan, Paul McCartney (77) und Madonna (61). Herzogin Meghan (38) und die Band Metallica. Und Peach Weber (67). Und Kiki Maeder (38). Franz Hohler (76) sowieso. Sie haben Kinderbücher verfasst. Während die Abgesänge auf gedrucktes Papier lauter werden, feiert der Stoff für die Kleinen Hochkonjunktur.
Besonders jetzt, zur Vorweihnachtszeit, herrscht emsiger Betrieb. Am 7. Dezember zum Beispiel wird «Plumm und Zwickel» vorgestellt. Die Idee für die Fabel eines Altstadthasen und eines Fuchses hatte Monique Meier, Gründerin des Zürcher Modelabels Ensoie und Ehefrau von Yello-Musiker Dieter Meier (74). Kinderbuchautorin Rosalina Zweifel und ihr Sohn, Literaturkritiker Stefan Zweifel (51), haben die Geschichte umgesetzt, mit Illustrationen von Claudia Blum. Seit zwei Wochen ist das Buch «Vom Engeli mit de rote Flügeli» von Romina Brunner Lenzlinger und Corinne Seeholzer erhältlich (Baeschlin-Verlag), eine freie Adaption von Robert L. Mays Klassiker «Rudolph the Red-Rosed Reindeer». Das sind nur zwei von unzähligen Neuerscheinungen.
Digital Natives sorgen für Bücherboom
2018 kamen über 8800 Kinder- und Jugendbücher auf den deutschsprachigen Markt; 2019 scheint ähnlich zu werden. «Diese Zahl hat sich in den letzten 15 Jahren verdoppelt», sagt Christine Tresch vom Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM).
Geht es um den Nachwuchs, ist rasch von Digital Natives die Rede, die ihre Zeit auf Instagram, Tiktok und Snapchat vergeuden. Gleichzeitig aber – welche Ironie! – sorgen ausgerechnet die Jungen für einen Boom im Buchgeschäft. Was ist anders als früher?
«Die Kinder- und Jugendliteratur ist seit den 1968er-Jahren ein Seismograf gesellschaftlicher Veränderungen», so Christine Tresch weiter. «Sie reagiert oft viel schneller als die Belletristik für Erwachsene auf Themen, die uns beschäftigen. So waren Flucht und Migration vor drei, vier Jahren ein grosses Thema in der Kinder- und Jugendliteratur.» Zurzeit finde man viele Romane für Jugendliche, die die #MeToo-Debatte aufgreifen. «Und natürlich ist auch die Klimadiskussion in der aktuellen Kinderliteratur sehr präsent.»
Plastian und Greta
Ein Streifzug durch Bücherläden bestätigt den Trend. «Plastian, der kleine Fisch» (Oekom-Verlag) sensibilisiert die Jüngsten für die Meeresverschmutzung, «Dünnes Eis» (Fondation Goodplanet) thematisiert die Erderwärmung, und der Titel von Ruby Roths «Vegan aus Liebe» (Echo Verlag) ist selbstredend. Jetzt erobert gerade die 16-jährige Klimaaktivistin Greta Thunberg die Regale. «Gretas Geschichte» vom Plaza Verlag geizt nicht mit Pathos: «Im Allgemeinen hielt sich Greta an Regeln, aber sie war zu dem Schluss gekommen, dass man dieses Problem nicht ohne Rebellion lösen konnte.»
Dabei beginnt die Kinderliteratur vor allem äusserst morbid. Zu Zeiten der Erstpublikation von Grimms Märchen (1812) erreicht gerade mal jedes zweite Kind das Erwachsenenalter. In der Lebenswelt des Zielpublikums ist Gevatter Tod so allgegenwärtig wie in den Geschichten: verbrannte Hexen («Hänsel und Gretel»), verblichene Mütter («Aschenputtel»), Mädchen im Koma («Dornröschen»). Nur konsequent, dass jede Erzählung mit einer Todeserinnerung endet: «Und wenn sie nicht gestorben sind …»
Max und Moritz werden zermalmt
Bei den Brüdern Grimm ist die erzieherische Botschaft noch in romantischen Schauer verpackt. Im nüchternen Biedermeier hingegen wird sie von reduzierten Figuren vermittelt. Die Schöpfungen des Nervenarztes Heinrich Hoffmann (1809–1894) halten sich bis heute: Struwwelpeter, Suppen-Kaspar, Hans-Guck-in-die Luft. In jener Epoche beschenkt Wilhelm Busch (1832–1908) die Weltliteratur mit zwei Schlitzohren: Max und Moritz. Nach sieben Streichen stoppt der Bäcker die Serientäter und zermalmt sie zwischen den Mühlsteinen. Ein Ende, so brutal wie die damals einsetzende Industrialisierung.
Nicht minder zimperliche Kost tischt die Schweizerin Lisa Wenger (1858–1941) auf: Knecht Jakob weigert sich, Obst zu ernten. Worauf sein Meister den Hund auf ihn hetzt und eine Gewaltspirale lostritt. Die endet damit, dass schliesslich doch der ganze Hof den Streik beendet. «Joggeli söll go Birli schüttle» erscheint 1908. Nach Auskunft des Schweizerischen Landesmuseums taucht das Motiv aber bereits in einer «Sammlung jüdischer Geschichten» von 1762 auf. Bei der Parabel soll es sich um eine Allegorie für die Geschichte des jüdischen Volkes handeln: Stöcklein, Feuerlein und Wässerlein als Grossmächte, die den Juden ihr Land verweigern – bis Gott durchgreift und ihnen endlich ein Reich errichtet.
Pu, der erste Held mit Makeln
«Joggeli» ist noch heute beliebt – genauso wie ein 1931 geborener Held: Babar. Liebevoll entwirft Jean de Brunhoff (1899–1937) das Schicksal eines Elefantenkindes, dessen Mutter von Jägern getötet wird. Worauf es behütet in Paris aufwächst und als König in seine Heimat zurückkehrt. Das Buch ist ein Plädoyer für den Artenschutz – und folgt einem kolonialistischen Muster: Im Westen wird der wilde Afrikaner zivilisiert, wo er nun Dreiteiler mit Fliege und Lackschuhe trägt. Tragische Kindheit, Ausbildung in der Kolonialmacht und Rückkehr als Herrscher: Babars Vita weist unheimliche Parallelen zu jener von postkolonialen Drittwelt-Despoten auf. Aber wir wollen gnädig sein und attestieren ihm allerbeste Qualitäten.
1926 erscheint ein völlig neuartiger Held. Einer nämlich mit Makeln – er ist dick, faul und honigsüchtig: Pu der Bär von A.A. Milne (1882–1956). Im Dialog mit Ferkel äussert Pu Weisheiten von genialer Schlichtheit: «Menschen sagen ‹Nichts ist unmöglich›, aber ich mache jeden Tag nichts.»
Mit dem Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit wächst das individuelle Freiheitsbedürfnis. Niemand verkörpert das besser als ein Mädchen, das Astrid Lindgren (1907–2002) erfindet: Pippi Langstrumpf. Die Piratentochter wird Ikone für Selbstbestimmung, Frauenemanzipation und gesellschaftlichen Aufbruch.
Es wird psychedelisch
Der plötzliche Wohlstand lässt die Babyboomer mit neuen Lebensmodellen und mit Drogen experimentieren. Anything goes, auch in der Kinderliteratur. Form und Farbe können variieren. Der 1970 entstandene Barbapapa scheint einer Lavalampe entflohen. 1978 schickt Janosch (88) die freakigen WG-Kumpel Tiger und Bär auf wundersame Abenteuer. Maurice Sendak (1928–2012) illustriert einen Traum wie einen LSD-Trip: Der Megaseller «Wo die wilden Kerle wohnen» ist aus dem Kinderbücherkanon nicht mehr wegzudenken.
Ein Münchner Hippie malt den Alltag als Groteske mit subversivem Anstrich: Ali Mitgutsch (84) erfindet mit «Rundherum in meiner Stadt» (1968) das Genre des Wimmelbuchs. Zeitgleich mit der psychedelischen Weltenflucht erhebt sich die Gesellschaftskritik. Barbapapa entdeckt den Naturschutz. Der Schweizer Illustrator Jörg Müller (77) thematisiert 1973 die Zersiedelung und setzt mit seinem Hyperrealismus neue Massstäbe: «Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder» wird Pflichtlektüre in alternativen Haushalten.
Der wandelbarste Schweizer Kinderheld ist blau: Globi, 1933 von Robert Lips (1912–1975) geschaffen. Anfangs ein politisch unkorrekter Knirps mit Eltern und Geschwistern, mausert sich das Wesen zum «Kinderfreund» undefinierbarer Gattung, der den Kleinen von der ETH über das Bundeshaus bis zum Leutschenbach die Schweiz näherbringt. Globis Ähnlichkeit mit einem Wappentier auf den Fresken der Klosterkirche in Kappel ZH setzt Lips Vermutungen aus, dort inspiriert worden zu sein. Was dieser zeitlebens bestreitet. Was macht Globis Erfolg aus? Stephanie Fabian vom Orell Füssli Verlag: «Globi vermittelt ein Menschenbild, das die Kinder anspricht, mit dem sie sich sofort identifizieren.»
Das Dreigestirn der Schweizer Kinderliteratur
Der Schnabelmensch gehört zum Dreigestirn der populärsten Schweizer Kinderhelden – neben Schellen-Ursli von Selina Chönz (1910–2000) und Alois Carigiet (1902–1985) sowie der unangefochtenen Königin der Schweizer Kinder- und Jugendliteratur: Heidi, die 1880 erschienene Romanfigur von Johanna Spyri (1827–1910).
Manche heutige Bücher sind Lichtjahre von Heidi entfernt. Die Orell-Füssli-Buchhandlung am Zürcher Kramhof weist in der Kinderabteilung ein Fach für «Umwelt» und eines für «Gender/Rollenbilder» aus. «Zwei Mamas für Oscar» (Ellermann-Verlag) etwa bringt den Kleinen das Thema gleichgeschlechtliche Beziehung und Regenbogenfamilien näher. Darin heisst es: «Wir brauchen endlich den Samen von einem Menschen, haben sie gesagt und dabei an ihren Freund Hans gedacht. Hans hat nämlich Samen.» Was Alpöhi da bloss denken würde?