Ausgerechnet ein Grossstadtkind aus New York ist das erste Gesicht des Schweizer Alpenmädchens: Madge Evans (1909–1981) spielt Heidi im Stummfilm von 1920. 1952 prägt die Winterthurerin Elsbeth Sigmund (77) das Heidi-Bild in der ersten deutschsprachigen Film-Adaption von Johanna Spyris Kinderbuch-Klassiker. Und die jüngste Kinogeneration sieht beim Stichwort «Heidi» die Churerin Anuk Steffen (14) aus dem Schweizer Spielfilm von 2015 vor Augen.
Doch es ist ein Mann, der die literarische Figur zum eindrücklichsten Superstar macht: Der japanische Animator Yoichi Kotabe (82) sorgt mit seinem Zeichenstrich in der Trickfilmserie «Arupusu no Shojo Haiji» («Alpenmädchen Heidi») von 1974 für eine wahre Heidi-Manie – zunächst in seiner Heimat, später weltweit. Die grossen schwarzen Kulleraugen des nach der fernöstlichen Niedlichkeitsästhetik Kawaii gezeichneten Mädchens erobern die Herzen eines Millionen-Publikums im Sturm.
«Heidi» ist für Japaner viel mehr als ein Kinderbuch
«Heidi in Japan», eine spannende Ausstellung im Landesmuseum Zürich, zeigt ab kommendem Mittwoch anschaulich die Hintergründe dieses Phänomens – unter welchen erschwerten Umständen es zu dieser Anime-Serie kommen konnte, wie sie in der Folge Japaner zu Tausenden in die Schweiz trieb und welche Auswüchse die Alpensehnsucht in den Verkaufsregalen zeitigte. Und nicht zuletzt zeigt die Schau, wie dieser fremde Blick auf die Schweiz unsere Eigenwahrnehmung veränderte.
«Diese Anime-Serie war ein TV-Event in Japan und ist ein Wendepunkt in der Beziehung Schweiz–Japan», sagt Hans Bjarne Thomsen (62), Professor für Kunstgeschichte Ostasiens an der Universität Zürich. Eben erst von der japanischen Regierung mit dem «Order of the Rising Sun, Gold Rays with Rosette» für seine Verdienste zur Förderung des gegenseitigen Verständnisses zwischen Japan und der Schweiz ausgezeichnet, ist Thomsen seit Jahren treibende Kraft hinter dieser Ausstellung.
«Als ich 2007 hierher nach Zürich kam, dachte ich: Diese Ausstellung will ich machen», sagt Thomsen. Seine Kollegen rieten ihm zunächst ab: «Mach das nicht, Heidi ist ein Kinderbuch – du musst etwas Seriöses machen.» Doch Thomsen liess nicht locker. Und als er vor drei Jahren auf Landesmuseum-Direktor Andreas Spillmann (59) traf, konnten die Vorbereitungen beginnen.
Thomsen weiss aus eigener Erfahrung: «Heidi» ist für Japaner viel mehr als ein Kinderbuch. Der mittlere Sohn einer dänischen Familie kam 1957 in Japan zur Welt, lebte dort bis 13 und las «Heidi» auf Japanisch. Er hat heute selber fünf Kinder mit einer Japanerin. Als sie noch nicht verheiratet waren, machten sie eine Reise auf die Rigi. Und beim Anblick von Geissen intonierte seine damalige Verlobte spontan die berühmte Eingangsmelodie der «Heidi»-Serie.
Dass Japaner in der Schweiz immer wieder Motive aus dem Trickfilm erkennen, hat seinen guten Grund: Die damaligen Macher – unter ihnen der Regisseur Isao Takahata (1935–2018) und der Inszenierer und spätere Oscar-Gewinner Hayao Miyazaki (78) – brachen 1973 zu einer Erkundungsreise in die Schweiz auf, genauer in die Umgebung von Maienfeld GR, wo Johanna Spyri (1827–1901) ihr Kinderbuch angesiedelt hatte.
Mit Fotoapparaten bewaffnet dokumentierten sie alles, was nur annähernd für ihr Trickfilm-Projekt wichtig sein konnte: eine Alphütte, Werkzeuge der Bauern, spielende Kinder. Auch wenn sie später in Japan alles mit Stiften nachzeichnen, es sollte alles richtig dargestellt sein. So richtig, dass sich die fernöstlichen Zuschauer ihres Anime auf die Reise in die Schweiz machen können, um die Originalschauplätze wiederzuerkennen.
Der Trickfilm hat die erste grüne Welle ausgelöst
Tatsächlich packten nach der Erstausstrahlung der 52 Folgen – jeden Sonntag 1974 auf Fuji TV – viele Japaner die Koffer und nahmen die lange und teure Reise in die Schweiz auf sich. Noch heute kommen 60 Prozent der Touristen der «Heidiland»-Region aus dem Land der aufgehenden Sonne – angefeuert durch Schweiz Tourismus: In der Schweizer Botschaft in Tokio gibt es eine Person, die eigens dafür angestellt ist, das Alpenmädchen Heidi zu vermarkten.
Es sind aber nicht primär Originalschauplätze, die Japaner anziehen. Vor allem die sauber gezeichnete Natur aus «Heidi» wirkte magisch. «Anfang der 1970er-Jahre gab es in Japan mehrere Naturkatastrophen», sagt Thomsen. Unter anderem verunreinigte die Industrie Gewässer mit Quecksilber. «Die Japaner hatten das Gefühl, dass sie nicht richtig mit der Umwelt umgehen», sagt Thomsen. Da kam die heile Welt aus «Heidi» gerade richtig: Man könnte sagen, der Trickfilm habe die erste grüne Welle ausgelöst.
Zwar gab es bereits 1920 eine erste Übersetzung von Johanna Spyris Bestseller ins Japanische, und nach dem von Japan verlorenen Zweiten Weltkrieg gab es eine erste «Heidi»-Sehnsucht. Doch der Erfolg von 1974 stellte das in den Schatten. Tassen, Taschen und Uhren – alles verzierte man mit dem niedlich gezeichneten Mädchen. Ja, die Japaner, die Käse schlecht verdauen können, begannen Fondue zu essen, wenn auf der Verpackung «Heidi» lächelte.
Die Trickfilmserie läuft heute noch in endlosen Wiederholungen im japanischen Fernsehen und spielte seine Produktionskosten mehrfach ein. Doch Heidis Erfolg blieb nicht nur auf das fernöstliche Inselreich beschränkt: Einmal nach Japan gekommen, reiste «Heidi» in die ganze Welt weiter: 20 Sprachregionen haben eine eigene Übersetzung des Anime. Von 1977 bis 1978 strahlte das ZDF eine deutschsprachige Version aus, die auch in der Schweiz viele Zuschauer fand.
Dieser Erfolg war nicht absehbar. Deshalb war die Produktion für die Macher ein finanzielles Risiko, wie Thomsen weiss: «Trickfilmserien mit Knaben und Robotern gab es damals in Japan bereits», sagt er, «aber ‹Heidi› war die erste Serie mit einem kleinen Mädchen.»
Bei der Geldbeschaffung biss die Produktionsfirma zuweilen auf Granit: Ein Süssigkeitenhersteller wollte kein Geld investieren, weil dem gezeichneten Geissenpeter ein Zahn fehlte. Man fürchtete einen Image-Schaden. Regisseur Takahata und sein Team mussten von der Hand in den Mund leben, schufen Woche für Woche eine neue Folge, die dann gleich zur Ausstrahlung kam. «Die Zeichner gingen teilweise nicht mehr nach Hause und schliefen unter den Pulten», sagt Thomsen.
Der Einsatz lohnt sich: 1985 gründen Takahata und Miyazaki mit dem Gewinn der «Heidi»-Folgen das Studio Ghibli, das sich auf Trickfilmproduktionen in der selben Kawaii-Ästhetik konzentriert. Aus dem Studio stammen Blockbuster wie «Erinnerungen an Marnie» (2014), «Die Chroniken von Erdsee» (2006) und «Chihiros Reise ins Zauberland» (2001), wofür Regisseur Hayao Miyazaki 2003 einen Oscar bekam.
Das Schweizer Fernsehen hat «Heidi» nie gezeigt
Des einen Freud ist des anderen Leid: Die Darstellung der Schweiz als unberührtes, bäuerliches Gebiet in «Heidi» zementiert weltweit das Bild eines rückständigen Landes, was bei uns teilweise Aversionen hervorruft. Kein Zufall, strahlte das Schweizer Fernsehen die Trickfilmserie nie aus.
Thomsen verdeutlicht die Spannungen an einer Anekdote: Die Schweizer Schwiegermutter einer japanischen Bekannten musste umziehen. Alle halfen, trotzdem färbte die körperliche Anstrengung die Wangen der älteren Frau rot, worauf die Japanerin spontan sagte: «Du siehst aus wie eine gealterte Heidi!» Darauf die Schweizerin erbost: «Ich bin im Fall in Zürich aufgewachsen!»
«Heidi in Japan» vom 17. Juli bis 13. Oktober im Landesmuseum Zürich.
Yoichi Kotabe, geistiger Vater der Zeichentrickfiguren Heidi, Super Mario und Pokémon, ist am 30. August in der Ausstellung.