Gut 31 Zentimeter breit und nur 13 hoch: Quer in der Landschaft liegt das Bilderbuch «Joggeli söll ga Birli schüttle!» der Bernerin Lisa Wenger von 1908. Jedes Kind, das es einmal in Händen hält, die 16 kartonierten Seiten umschlägt und das sich darin eröffnende Panorama bestaunt, vergisst den Anblick zu Lebzeiten nicht mehr.
«Es schickt dr Herr dr Joggeli us / er söll go Birli schüttle. / Joggeli wott nid Birli schüttle, / d Birli wei nid falle», beginnt das Buch, weswegen es auf Hochdeutsch gestrenge «Vom ungehorsamen Jockel» heisst. Grosseltern rezitieren heute noch auswendig den beginnenden Reigen mit Hündli, Chnebeli, Fürli usw., die den faulen Joggeli anspornen sollen.
Freiwillig, ohne treibende Kraft strömen zurzeit Jung und Alt ins Zürcher Landesmuseum zur Ausstellung «Joggeli, Pitschi, Globi … Beliebte Schweizer Bilderbücher». 37 000 Eintritte hat man dort seit Mitte Juni gezählt – bereits jetzt ein Publikumsmagnet. Und die Schau dauert noch bis 14. Oktober.
Früh übt sich, wer ein guter Leser werden will
«Joggeli» und «Pitschi» von Hans Fischer sind Schweizer Bilderbuchklassiker, die auch Anita Müller (58) in jungen Jahren begleitet haben. «Ich hatte das Glück, mit vielen Kinderbüchern aufwachsen zu können.» Als sie selber lesen konnte, habe sie das Kontingent der Bibliothek voll ausgeschöpft. «Viel Konventionelles und was in den 60er-Jahren in einer durchschnittlichen Stube landete.»
Müller weiss, wie wichtig die frühkindliche Gewöhnung ans Buch ist, denn sie ist seit 2014 Direktorin des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM), das dieser Tage sein 50-jähriges Bestehen feiert. Mit landesweiten Aktionen wie dem «Schweizer Vorlesetag» oder «Schenk mir eine Geschichte» betreibt das SIKJM gezielte Leseförderung in Schulen. Denn Studien belegen: Früh übt sich, wer ein guter Leser werden will.
Wie wichtig dieser erlernte Umgang mit Büchern gerade im digitalen Zeitalter ist, zeigt eine Mitte August veröffentlichte US-Studie der Fachzeitschrift «Psychology of Popular Media Culture». Die Forscher vergleichen darin den Medienkonsum von US-Jugendlichen 1976 und 2016. Das erschreckende Ergebnis: Griffen früher noch 60 Prozent der Teenager täglich nach einem Buch, sind es 40 Jahre später gerade mal noch 16 Prozent. Dafür verbringen sie Stunden mit sozialen Medien.
Die Situation in der Schweiz sieht Anita Müller nicht gar so dramatisch. Zwar gebe es bei uns keine Langzeitstudie über das Leseverhalten von Kindern. Doch zwei deutsche Studien, die die Lesefreude von Kindern und Jugendlichen erheben, zeigen ein konstantes Ergebnis: Tägliches Bücherlesen ist demnach in den letzten zehn Jahren stets bei rund 40 Prozent der deutschen Teens angesagt – Tendenz zuletzt sogar leicht steigend.
Ein Drittel der Schweizer Kinder greift täglich nach einem Buch
Die Schweizer Studie «Medien, Interaktion, Kinder, Eltern» (MIKE) der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften kommt für 2017 zu einem ähnlichen Ergebnis: Derzufolge greift rund ein Drittel der Kinder täglich nach einem Buch. Und die Verlage sorgen fleissig für neuen Lesestoff: So hat sich die Zahl der Neuerscheinungen von Kinderbüchern auf dem deutschsprachigen Markt in den letzten 15 Jahren auf nahezu 9000 pro Jahr verdoppelt.
Traditionellerweise mischen da Schweizer Autorinnen und Autoren kräftig mit. Ziehen heute Namen wie Dana Grigorcea, Katja Alves oder Lorenz Pauli, so waren es früher Lisa Wenger, Selina Chönz oder Franz Hohler. Und manche dieser Bücher haben sich zu wahren Longsellern entwickelt (siehe Bildergalerie), weil sie die Leserinnen und Leser später ihren Kindern und Enkelkindern kaufen. «Kinderbücher sind auch ein Nostalgieprodukt, und zwar durchaus im positiven Sinn», sagt Müller, «sie wecken Erinnerungen und Gefühle, verbinden Generationen und übermitteln als Kulturgut Traditionen und gesellschaftliche Werte.»
Diesbezüglich ist «Heidi» der Zürcher Autorin Johanna Spyri (1827–1901) der absolute Überflieger. Das Buch verkaufte sich weltweit über 50 Millionen Mal und ist damit nach dem «Kleinen Prinz» von Antoine de Saint-Exupéry der zweitgrösste Verkaufsschlager im Bereich Kinderliteratur. «Spyri macht die Spannung zwischen Moderne und Tradition, die Sehnsucht nach der heilen Natur, aber auch Gefühle wie Heimweh, Trennung und kindliche Entwicklung zum Thema», erklärt Müller den nachhaltigen Erfolg. «Diese Themen haben universale Bedeutung und sind auch heute noch von Belang.»
Der «Atlas der Schweizer Kinderliteratur» zum Jubiläum
Als Johanna-Spyri-Stiftung bzw. Schweizerisches Jugendbuch-Institut 1968 gegründet, entwickelte sich aus dem Zusammenschluss mit dem Schweizerischen Bund für Jugendliteratur das heutige Schweizerische Institut für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM). Das Institut mit Geschäftsstellen in Zürich, Lausanne und Bellinzona setzt jährlich drei Millionen Franken für Leseförderungsprojekte, Beratungen, Forschungen, Publikationen und eine Fachbibliothek in Zürich ein. Zudem vergibt das SIKJM alle zwei Jahre den Kinder- und Jugendmedien-Preis – 2017 ging er an Lorenz Pauli (51).
Zum 50-Jahre-Jubiläum des SIKJM erscheint nun im Chronos-Verlag der reich illustrierte «Atlas der Schweizer Kinderliteratur». In 20 Kapiteln erörtern Autoren wie der Lektor Hans ten Doornkaat, der Philosoph Stefan Zweifel oder der Historiker Jakob Tanner schwergewichtig die Entwicklung in den letzten 20 Jahren – von Kinderwelten bis zu Reisen ins Fantastische, vom kindlichen Lallen bis zum versierten Umgang mit Mundart, von Kriminalgeschichten bis zu weiblichen Abenteuerwelten.
«Unser Kopf ist, wie der Dadaist Francis Picabia sagte, rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann», schreibt Stefan Zweifel (50) in seinem Beitrag «Im Lallall. Sprach- und Denkspiele». «Dies lehren uns, wie wenig sonst, die Kinderbücher.» Und Franz Lettner, Chefredaktor von «1001 Buch. Das Magazin für Kinder- und Jugendliteratur» schreibt im Kapitel «Bestiarium helveticum. Eine fast empirische Studie zum Tier im Kinderbuch»: «In der Schweiz gibt es mindestens 24 zoologische Gärten und etwa halb so viele Verlage, die Kinderbücher publizieren.»
Noch ist das Schweizer Kinderbuch keine bedrohte Spezies, aber man muss stets eine neue Leserschaft betören. «Wir haben das Ziel, dass jedes Kind in der Schweiz mit guten Büchern aufwachsen kann», sagt SIKJM-Direktorin Müller, «und damit auch gleiche Chancen hat für seine Bildungslaufbahn sowie die Möglichkeit, in der Gesellschaft mitzuwirken.» Dies sei heute noch nicht der Fall.
Am 22. September feiert das SIKJM im Kosmos, Zürich, seinen 50. Geburtstag (Anlass ausgebucht). Zum Jubiläum erscheint im Chronos-Verlag der «Atlas der Schweizer Kinderliteratur»