Darum gehts
Nemo (25) singt, Ella (22) fotografiert – beide tun dies hauptberuflich und sehr erfolgreich. Privat wird Ella dieses Jahr mit 22 erstmals Mutter und pendelt für den Job zwischen Zürich, New York und Los Angeles. Nemo outet sich 2023 als non-binär, zieht von Biel nach Berlin und dann nach London. Die Lebenswege der Geschwister entsprechen nicht unbedingt der Norm der Gesellschaft, beide entfalten sich frei, leben genau so, wie sie es sich wünschen.
Wie sind die Geschwister zu den freidenkenden, kreativen Persönlichkeiten geworden, die sie heute sind? Ihre Eltern haben die beiden nach einem ganz bestimmten Muster erzogen: «Hands-off Parenting». Der Laissez-Faire-Erziehungsstil gibt Kindern ganz viel Freiraum, selber zu lernen und zu entscheiden. Von Eltern fordert Hands-off Vertrauen und Gelassenheit.
Schon als die beiden noch kleiner waren, verfasste ihre Mutter Nadja Schnetzler (53) ihre persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse mit «Hands-off Parenting» in einem Blog. Nun sind die Texte bei mal-ehrlich.ch neu aufgelegt und als Manifest veröffentlicht. Im Interview erklärt Nadja Schnetzler die Grundsätze von «Hands-off Parenting», erzählt von ihren persönlichen Erfahrungen damit und erläutert, wie sie mit dem Hands-off-Grundsatz auf Nemos Outing als non-binär reagierte.
Nach welchen Grundsätzen hast du deine Kinder Nemo und Ella erzogen?
Nadja Schnetzler: Ich habe sie so erzogen, dass sie ihre eigenen Interessen und Leidenschaften verfolgen konnten – ohne dass ich ihnen vorgab, was «richtig» oder «falsch» ist. Ein zentraler Grundsatz ist Vertrauen: Ich vertraute darauf, dass meine Kinder ihre Bedürfnisse kennen und ihre eigenen Wege finden. Statt sie in bestimmte Bahnen zu lenken, habe ich Raum geschaffen, damit sie ausprobieren, experimentieren und sich selbst entdecken konnten.
Und du hast als Mutter deinen Kindern das kreative Sein und Denken vorgelebt?
Geholfen hat sicher auch das kreative Umfeld, in dem Nemo und Ella aufwachsen durften. Mein Partner Markus und ich betrieben in ihrer Kindheit eine grosse und in vielen Teilen verrückte Kreativagentur, in der Menschen aus den unterschiedlichsten Firmen und Kulturen ein und aus gingen. Nemo und Ella erlebten in diesem Umfeld, dass (fast) alles möglich ist und dass man keine Angst davor haben muss, Sachen auszuprobieren, zu scheitern, aufzustehen und das Nächste zu probieren.
Wie beschreibst du «Hands-off Parenting»?
Es bedeutet für mich, Kinder mit einer Haltung des Vertrauens und der Begleitung grosszuziehen, ohne ihnen ständig vorzugeben, was sie tun oder lassen sollen. Es bedeutet, sich so weit wie möglich zurückzunehmen, anstatt sie zu formen oder zu kontrollieren. Ich bin als Mutter nicht die «Managerin» meiner Kinder, sondern eine Sparringspartnerin, die sie unterstützt, Fragen stellt und ihnen hilft, ihre eigene Identität zu finden. Dabei habe ich nur in zwei Situationen eingegriffen: Wenn echte Gefahr drohte oder wenn meine Intuition mir sagte, dass es Zeit ist, einzugreifen.
Was machst du anders als andere Eltern?
Viele Eltern versuchen, ihr Kind zu «optimieren» – gute Noten, richtige Hobbys, der bestmögliche Weg. Ich hingegen habe wenig Wert auf gesellschaftliche Erwartungen gelegt und meine Kinder ermutigt, ihre eigenen Interessen und Stärken zu entdecken – auch wenn das bedeutete, dass sie mal Umwege gingen oder nicht den «typischen» Weg einschlugen. Ich war auch nicht besessen davon, ihre Leistungen zu kontrollieren oder ihnen Dinge vorzuschreiben, sondern habe sie selbst entscheiden lassen, wann sie zum Beispiel Hausaufgaben machen oder ins Bett gehen.
Das Kind kann den Weg meist alleine finden – wie vertrautest du darauf?
Ich sehe Kinder als eigenständige Menschen mit einer tiefen inneren Weisheit. Sie wissen oft intuitiv, was ihnen guttut, was sie interessiert und wo sie sich entfalten wollen. Dieses Vertrauen habe ich mir bewusst erhalten – auch wenn es Momente gab, in denen ich zweifelte. Ich habe gelernt, dass es nicht darum geht, sie perfekt durch die Welt zu navigieren, sondern darum, ihnen das Selbstbewusstsein zu geben, es selbst zu tun.
Wie hast du «Hands-off Parenting» konkret angewendet?
Ein Beispiel: Als mein älteres Kind Nemo sich für Schauspielerei und Musik zu interessieren begann, habe ich nicht gesagt: «Das ist aber kein sicherer Beruf, mach lieber etwas anderes.» Stattdessen habe ich es ermutigt, seinen Weg zu verfolgen. Das bedeutete auch, dass ich zugelassen habe, dass Schule nicht immer Priorität hatte. Ich habe geholfen, wenn ich gefragt wurde, aber die Verantwortung blieb bei meinen Kindern. So kam es zum Beispiel, dass Nemo mit 11 Jahren sagte: «Morgen gehe ich zu einem Casting, kommst du mit?», oder dass Ella mit 16 Jahren ihren ersten kommerziellen Auftrag als Fotografin ausübte. Weil ich sie einfach machen liess und an sie glaubte.
Was sind die grössten Vorteile von diesem Erziehungsstil?
Kinder lernen, selbstständig Entscheidungen zu treffen und für sich selbst einzustehen. Sie entwickeln Selbstvertrauen und eine starke innere Stimme, weil sie nicht daran gewöhnt sind, dass jemand anders alles für sie regelt. Es macht sie resilienter, kreativer und mutiger. Und es schafft eine echte, tiefe Beziehung auf Augenhöhe zwischen Eltern und Kindern – nicht eine Beziehung, die auf Kontrolle basiert.
Und was ist daran für Eltern besonders herausfordernd?
Loslassen ist die grösste Herausforderung. Als Eltern haben wir oft Angst: Was, wenn unser Kind scheitert? Was, wenn es einen falschen Weg geht? «Hands-off Parenting» bedeutet, mit dieser Angst zu leben und trotzdem Vertrauen zu haben. Es bedeutet auch, die eigene Rolle zu hinterfragen: Ich bin nicht dazu da, mein Kind zu «machen», sondern ihm zu helfen, sich selbst zu entdecken. Und das kann verdammt schwierig sein.
Nemo und Ella sind inzwischen erwachsen. Wie hat sich eure Beziehung verändert?
Wir verbringen Zeit miteinander, weil wir es möchten, und nicht, weil jemand findet, dass man als Familie Zeit zusammen verbringen «muss». Wir fragen uns gegenseitig um Rat und Hilfe und sind füreinander da, freuen uns über die Erfolge der anderen und sind die Schulter zum Anlehnen, wenn es gerade mal nicht so läuft, wie man es gerne hätte.
Wie hast du als Mutter reagiert, als Nemo sich ans non-binär geoutet hat?
Ich habe so reagiert, wie ich als Mutter auf jede Entwicklung meiner Kinder reagieren will: Zuhören, verstehen, akzeptieren. Und die Authentizität der Person feiern. Und ich gehe damit um, wie ich mit allem umgehe, was im Leben meiner Kinder passiert: Ich bin für sie da, wenn sie mich brauchen und bleibe ansonsten hands-off.