Unter dem Hashtag #indoorplants finden sich auf Instagram sieben Millionen Posts zu Zimmerpflanzen. Kaum ein Café oder Wohnzimmer, das sich als Ort der Selbstinszenierung oder Wohlfühloase präsentieren will, kommt heute ohne Pflanzenschmuck aus.
Die Pandemie hat diesen Trend verstärkt. Wie ein Blick-TV-Beitrag zeigt, stieg der Zimmerpflanzen-Umsatz in den vergangenen zwei Jahren um das Vier- bis Fünffache. Viele Schweizerinnen und Schweizer träumten dank Homeoffice-Pflicht und Shutdowns offensichtlich von ihrem eigenen kleinen Dschungel im Wohnzimmer. Doch wie kam das schöne Grün ursprünglich in unsere Stuben?
«Märtyrer der Orchideologie»
Bevor die Pflanzen aus dem Gewächshaus ins bürgerliche Wohnzimmer wanderten, mussten sie oft erst Europa erreichen. Exotische Pflanzen als Statussymbol der Reichen sind schon seit dem 16. Jahrhundert bekannt, doch erst die Möglichkeit, sie ganzjährig im Haus zu halten, erzeugte bei den Oberschichten ein wahres Wettzüchten.
Obwohl deutschsprachige Ratgeber im frühen 19. Jahrhundert oft auch einheimische Gewächse erwähnten, machten exotische Pflanzen wie Orchideen einen grossen Teil der Modeblumen aus. Hier ging es oft um den Reiz des Neuen, um Prachtblumen statt «Heimisches».
Im 18. und 19. Jahrhundert begaben sich europäische Kolonialabenteurer deswegen auf wilde Raubzüge, beispielsweise in Nord- und Südamerika oder in Südafrika, um eine besondere Pflanze zu erbeuten. Raubzüge, von denen sie oft nicht zurückkehrten: Ungewohnte Nahrungsmittel, Widerstand indigener Gruppen und vor allem die tropischen Klimata und Krankheiten sorgten für eine hohe Todesrate. Es kursierten Geschichten von furchtlosen Sammlern, die gar wilde Tiger niederrangen, um an die gewünschte Pflanze zu kommen. Der Orchideenfan Frederick Boyle schrieb Ende des 19. Jahrhunderts von den «Märtyrern der Orchideologie».
Selbst wenn die Reisenden überlebten, war die intakte Rückkehr der Pflanzen nicht gewährleistet. Viele gingen auf den langen transatlantischen Schifffahrten zugrunde. Für die Unternehmen waren damit teils hohe Verluste verbunden. Diese nahm man aber gerne in Kauf, denn wem es gelang, eine gefragte Pflanze in Europa zu züchten, der wurde reich. Pflanzenhändler wie der «Orchideenkönig» Frederick Sander waren an wetterfesten Gewächsen interessiert, die sich auch in Europa leicht züchten und als Massenware verkaufen liessen.
Marino Ferri promovierte 2022 an der Universität Luzern in Geschichte mit einer Arbeit über geflüchtete Studenten und Studentinnen an Schweizer Hochschulen.
Sophie Küsterling promoviert an der Universität Luzern zur Ausweisung und Heimschaffung psychisch kranker Deutscher aus der Schweiz bis 1945. Sie ist Forschungsassistentin an der Fernuni Schweiz.
Marino Ferri promovierte 2022 an der Universität Luzern in Geschichte mit einer Arbeit über geflüchtete Studenten und Studentinnen an Schweizer Hochschulen.
Sophie Küsterling promoviert an der Universität Luzern zur Ausweisung und Heimschaffung psychisch kranker Deutscher aus der Schweiz bis 1945. Sie ist Forschungsassistentin an der Fernuni Schweiz.
Zimmerpflanzen werden Teil der bürgerlichen Lebens- und Wohnkultur
Die Demokratisierung des Pflanzenmarktes hatte schliesslich auch mit der Stadtentwicklung zu tun. Konnten sich noch im 18. Jahrhundert nur wohlhabende Landbesitzer mit weitschweifigen Gärten, grossen Gewächshäusern und Personal die Haltung anspruchsvoller Pflanzen leisten, setzte im 19. Jahrhundert ein Domestizierungsprozess ein. Die Pflanzen zogen in die bürgerlichen Stadtstuben.
Damit bewegte sich die Zimmerpflanzenkultur weg von der wissenschaftlichen Botanophilie, wie die Historikerin Sophie Ruppel schreibt. Obwohl Pflanzen auch damals wegen ihrer raumklimaverbessernden Eigenschaften geschätzt wurden, entkoppelte sich die «Stubengärtnerei» zunehmend von der Wissenschaft. Ästhetik, Architektur und Konsum rückten in den Vordergrund. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts waren Zimmerpflanzen unhinterfragter Bestandteil des bourgeoisen Lebensstils.
Moralisierung und Interieurisierung
Zunächst einmal kamen empfindliche oder exotische Pflanzen ins Wohnzimmer, damit sie nicht erfroren. Es ist also nicht verwunderlich, dass im 19. Jahrhundert deren artgerechte Pflege besonders wichtig war. Die Vernachlässigung hingegen galt als moralisch verwerflich, grausam und gefühllos. 1881 mahnte der Schweizerische Gartenbauverein zur sorgsamen Pflege der Zimmerpflanzen, denn kein echter «Blumenfreund» sei in der Lage, «mitleidlos an einer welkenden Pflanze vorbeizugehen». So wurden die Pflanzen von ihren «Erziehern» als «Zöglinge» regelrecht in das bürgerliche Familienleben integriert.
Auch wenn diese Sorge um Pflanzen heute ungewohnt wirkt, spiegeln sich darin die damals herrschenden Werte wider. Die «Erziehung» der Pflanzen galt als «Verstandes- und Herzensbildung». In ihrer Pflege zeigte sich nicht nur bürgerliche Ordnungsliebe, sondern auch die Tugend des Immer-beschäftigt-Seins, denn wurde diese gewissenhaft geübt, konnte sie bisweilen einen ganzen Tag beanspruchen.
Der Aufstieg der Zimmerpflanze ist aber auch mit dem Rückzug des Bürgertums in die Häuslichkeit verbunden. Grund für diese Interieurisierung waren unter anderem die politischen Turbulenzen des frühen 19. Jahrhunderts. So schrieb der deutsche Stubengarten-Ratgeber Karl Alexis Waller 1812 während der Napoleonischen Kriege: «Kann man es dem gefühlvollen Manne daher wohl verargen, wenn er unmutsvoll den Blick wegwendet und dafür seine lieben Pflanzen hegt und pflegt, die in ewiger Ruhe und Frieden grünen und blühen?» Ähnlich wie während der Corona-Pandemie waren Zimmerpflanzen eine willkommene Ablenkung von der Weltlage, die sich im Schutze der eigenen vier Wände ausüben liess.
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Pflanzen werden zum Dekorationsobjekt und Konsumgut
Mit der beginnenden Konsumkultur vollzog sich schliesslich auch die Wandlung der Pflanze vom Lebewesen hin zum Dekorationsobjekt. Es entstand spezifisches und extravagantes Mobiliar, das der Präsentation und Bewahrung der Pflanzen diente, etwa die Jardinière oder der Blumentisch. Pflanzen waren nun Teil einer reinen Luxus- und Konsumkultur, die Wohlstand, Kultiviertheit und Weltläufigkeit repräsentieren sollte.
Städter hielten ihre Pflanzen auf Fensterbrettern, in Fensterkästen oder auf Balkonen. Reichere Bürgerinnen leisteten sich hohe Räume und Fenster und ab dem 19. Jahrhundert repräsentative Wintergärten in den Stadtvillen. Mit ihren kostspieligen Glaswänden, hinter denen sich ganzjährig eine exotische Pflanzenpracht zeigte, wurden sie zum Mittelpunkt des bourgeoisen Soziallebens.
Zwischen dem Bürgertum des 19. Jahrhunderts und den Plantfluencern der Gegenwart zeigen sich verblüffende Parallelen. Pflanzen in der eigenen Wohnung zu halten und diese sowie das dazugehörige Wissen rund um ihre Pflege zu präsentieren, sind Praktiken des Zeitvertreibs, der Selbstvergewisserung und Selbstinszenierung in der Wohlstandsgesellschaft, die eine lange Tradition haben. Zimmerpflanzen konnten und können vieles sein: exotisches Prestigeobjekt, Lebewesen, das Teil der Familie ist und entsprechende Zuwendung erhält, oder rein dekorativer Bestandteil des Interieurs. Immer aber repräsentieren sie Status und bürgerliches Lebensgefühl.