Die Frage, die Rosemarie Kuhn an diesem Donnerstagmorgen am meisten gestellt wird: «Kann man den essen?»
Die Rede ist natürlich von Pilzen, zum Beispiel Steinpilzen. Und die schiessen momentan wie verrückt aus dem Boden: «Ich kann mich an kein Jahr erinnern, in dem es so lange so viele gab.» Denn: Es war in den letzten Wochen mehrheitlich trocken und in der Nacht feucht, was ihr Wachstum begünstigt.
Mit Körbchen und Messern ausgerüstet, haben sich deshalb 19 Sammler an der Talstation in Savognin GR eingefunden, um nach den leckeren Bodenschätzen zu suchen und mehr über sie zu lernen.
Rosemarie Kuhn ist amtliche Pilzkontrolleurin und Mitglied des Vereins für Pilzkunde Chur. Ursprünglich stammt sie aus Oberuzwil SG, führt aber seit 26 Jahren Pilzexkursionen in ganz Graubünden durch.
Ihr Telefon wird an diesem Vormittag immer wieder klingeln; die Pilzschontage sind gerade vorbei, es sind Herbstferien – und die Sonne scheint. Viele wollen jetzt ihre Ausbeute von Kuhn untersuchen lassen.
Grosse Nachfrage
Pilzesammeln liegt im Trend. Kurse in der ganzen Schweiz sind ausgebucht. Rosemarie Kuhn sagt, ihre Kurse seien so gefragt, dass sie doppelt so viele anbieten könnte. «Heute interessieren sich auch Junge und Familien für Pilze. Nicht nur fürs Essen, sondern auch für die Natur.»
Tatsächlich ist die Gruppe bunt durchmischt. Die jüngste Teilnehmerin ist neun Jahre alt, die älteste einundachtzig. Jetzt stehen alle im Halbkreis um Kuhn herum und lauschen aufmerksam. Bevor es ans Sammeln geht, gibt es nämlich erstmal eine «kleine Gattungslehre».
6000 höhere Pilzarten gibt es, also solche, deren Fruchtkörper aus dem Boden herausschauen. Und nur wenige von ihnen sind essbar. Vor sich hat Kuhn Schilder mit den Namen von Pilzordnungen auf den Boden gelegt: «Lamellen», «Röhrlinge» oder «Leistlinge». Eierschwämme zum Beispiel gehören zu den Leistlingen, Steinpilze zu den Röhrlingen. Die wiederum empfiehlt Kuhn auch Sammel-Anfängern, denn sie sind einfacher zu bestimmen.
Sie nimmt ihr Bestimmungsbuch zur Hand: «Lamellen-Pilze gibt es Hunderte» – die Seiten zu dieser Ordnung umfassen etwa eine Daumenbreite –, «Röhrlinge nur wenige». Kuhn nimmt die Seiten zwischen die Finger. Doch auch dort lauern Risiken.
Nicht wild drauflossammeln
Bevor es ans Sammeln geht, betont sie, dass es bei der heutigen Pilzexkursion vor allem ums Lernen und Beobachten geht: «Wir grasen keine Pilze ab, sondern pflücken ein Stück pro Art.» Pilzesammeln in Gruppen von mehr als drei Personen ist in Graubünden verboten. Für Einzelsammler gelten je nach Kanton andere Bestimmungen. Auf der Website der Vereinigung amtlicher Pilzkontrollorgane der Schweiz sind sie alle zu finden.
Jetzt aber Schluss mit der Theorie. Per Gondel geht es rauf nach Tigignas und von dort zu Fuss durch den Wald zurück ins Tal. Oben angekommen, instruiert Kuhn: «Jetzt müsst ihr euer Pilzauge einschalten.»
Und tatsächlich: Wer den Wegrand genau inspiziert, wird bald fündig. Untrainierte Augen müssen eher zweimal hinschauen: Viele Pilze sind durch ihre Farbe im Gras oder am Holz gut getarnt.
Nach einigen hundert Metern macht die Gruppe Halt. Kuhn: «Wenn ihr Pilze in die Kontrolle bringt, ist es wichtig, den ganzen Pilz mitzubringen.» Denn: Oft könne der Stiel und dessen Basis dabei helfen, den Pilz zu bestimmen.
Höörli sind gföhrli
Der Grüne Knollenblätterpilz etwa, der giftigste der Welt, hat unten eine Wulst, die bei der Identifizierung hilft. Kuhn gibt einen weiteren Tipp: Pilze, die unter ihrem Hut oder am Stiel Haare haben, seien meistens giftig. «Merkt euch: Höörli sind gföhrli.»
Daraufhin schwärmt die Gruppe aus und versucht, von jeder Ordnung einen Pilz zu finden. Das Resultat: Lamellen-Pilze gibt es tatsächlich zuhauf. Auch Speisepilze sind dabei. Zum Beispiel ein Parasol mit weissem Schirm und genattertem Stiel, «der schmeckt wie ein Kalbsplätzli», oder ein Violetter Rötelritterling mit grossem violettem Hut. Allerdings: «Höörli sind gföhrli», erinnert Kuhn. Und hebt den giftigen, rotbraunen Haarschleierling hoch, an dessen Stiel kleine Haare wachsen.
Weiter gehts, ins Tal hinunter. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer machen sich auf eigene Faust ans Suchen.
Nächster Halt: Die Feuerstelle nach dem Tobel. Kuhn schaut in die Körbe und sagt, welche Pilze essbar sind, welche nicht. Und gibt wieder Tipps: Vorsicht beim jungen Fliegenpilz! «Der kommt aus dem Boden wie ein Ei und schaut ähnlich aus wie die essbaren Bovisten.»
Aber: Wo Fliegenpilze wachsen, da sind auch Steinpilze oft nicht weit.
Nach gut drei Stunden ist die Gruppe im Tal angelangt. Im Hotel prüft die Pilzkontrolleurin erneut den Inhalt der Körbe. Sie notiert: 18 Speisepilze, darunter Steinpilze, Semmelporlinge und einen Wieseltäubling.
In der Küche werden die gesammelten Speisepilze zubereitet und anschliessend serviert. Dazu gibt es Teigwaren. Rosemarie Kuhn ist zufrieden. «Wir haben eine riesige Vielfalt an Pilzen gesehen.»
Das ist wichtiger als das Essen. Denn: Pilze schmecken ihr gar nicht so sehr.