Eine Schönheit faulenzt in einer Schiffskajüte, ein Champagnerglas steht vor ihr auf dem Tisch, im Hintergrund hängen Strümpfe an einer Wäscheleine. Plötzlich zieht ein Sturm auf – der Wellengang wirft die Frau in ihrer Abendgarderobe an die Wand, vor dem Bullauge flackern Blitze, aus dem Radio sind Sprachfetzen zu hören: «Corona» … «Pandemie» … «Donald Trump». Dann beruhigt sich der Sturm, Licht erfüllt die Kabine. Die Schönheit blickt nach draussen. Ein Leuchtturm!
Die Szene stammt aus dem dreiminütigen Film «Through the Storm» (Durch den Sturm) der St. Galler Schwestern Florine (30) und Kim (28) Nüesch alias Nüesch-Sisters. Die beiden Regisseurinnen haben ihn im Auftrag der italienischen «Vogue»-Ausgabe realisiert. Es geht um Ängste und Hoffnungen während der Pandemie. Und um schöne Kleider. Die Models tragen Fendi, Dries Van Noten, Céline. Diese Art von Videos, die Kollektionen mit Hilfe eines audiovisuellen Spektakels inszenieren, sind gerade das grosse Ding in der Modebranche.
Das bewegte Bild erhält immer mehr Gewicht
Film sei das ideale Medium, um Schnitte und Stoffe in Bewegung zu sehen, sagt Florine Nüesch. «Deshalb stehen Models bei Runway-Shows nicht still, sondern bewegen sich.» Nüesch spricht von einer Neugeburt des Fashion-Films. In Zeiten, in denen Konsumenten einen Grossteil ihrer Informationen online beziehen würden, erhalte das bewegte Bild immer mehr Gewicht. «Die Pandemie hat diese Entwicklung beschleunigt.»
Am 10. März endeten die internationalen Modeschauen in Paris. Sie fanden aufgrund der Covid-19-Pandemie erstmals ohne Live-Publikum statt. Dafür kann sich ein Millionenpublikum im Netz die Schauen schön verpackt in Clips ansehen, die meistens nicht mehr als zehn Minuten dauern.
Orte, an denen Shows mit Publikum unmöglich wären
Ein Vorteil von Schauen, die für ein Onlinepublikum konzipiert sind: Sie können an Orten stattfinden, die für bestuhlte Massenanlässe nicht geeignet wären. Zum Beispiel die Piste des Skigebiets von Cortina (Italien). Vor der Kulisse der Dolomiten liefen dort Models für die Marke Miu Miu durch den Schnee.
Oder Akris: Die kommende Herbst-Winter-Kollektion des Schweizer Modehauses von Albert Kriemler (61) wurde in der Stiftsbibliothek St. Gallen inszeniert. Sie gehört zum Unesco-Weltkulturerbe. Regisseur war der Niederländer Anton Corbijn (65, «Control», «The American»), den auch Chanel für seinen aktuellen Modefilm engagierte.
Was die Faszination der neuen Fashion-Filme ausmacht, sind die Geschichten, die sich mit ihrer Hilfe erzählen lassen. Der in London sesshafte Designer Michael Halpern (33) kleidete für seinen Fashion-Film Menschen mit systemrelevanten Berufen ein und liess sie vor der Kamera über das vergangene Jahr sprechen. Darunter eine Krankenhausmitarbeiterin und eine U-Bahn-Kondukteurin.
Zeitreise in die 30er-Jahre
Moschino versetzte die Zuschauer zurück in die 30er-Jahre. Damals präsentierte eine Conférencière die aktuelle Mode in einem Salon ausgewählten Kundinnen. Den Moschino-Film mit Auftritten von Dita Von Teese (48) und Hailey Baldwin (24) sahen sich auf Youtube Hunderttausende an.
Bei den Fashion-Videos sei es viel wichtiger als bei den Laufsteg-Shows, dass Models auch schauspielerisches Können mitbringen würden, sagt Philipp Junker. Der in Zürich ansässige Stylist wird im In- und Ausland für Modestrecken und -kampagnen gebucht und arbeitete mit Prominenten wie Roger Federer (39). Für den Film der Nüesch-Schwestern konzipierte Junker die Looks und kleidete die Models am Set ein. Das letzte Mal, dass er eine Modeschau besucht habe, sei im Herbst 2019 in New York gewesen, sagt er. An den Videos fasziniere ihn vor allem, welche starken Emotionen das bewegte Bild in Kombination mit Ton erzeugen könne.
Unzählige Kameras auf Schienen und in der Luft
Show-Videos gab es schon vor zehn Jahren. Damals kamen nur wenige Kameras zum Einsatz, die an einem fixen Ort standen. Heute sind es unzählige. Sie bewegen sich auf Schienen, hängen an Drohnen in der Luft und produzieren Stunden an Material, von dem am Schluss nur das Beste im Film landet. Das könne manchmal dazu führen, dass das Spektakel von der eigentlichen Sache ablenke, sagt Junker. «Ein Modefilm kann noch so kreativ gemacht sein. Wenn man die Kleider aufgrund des Tempos nicht richtig erkennen kann, bringt er dem Fachpublikum wenig.»