Das ist der letzte Schirmflicker der Schweiz
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Besuch in der Werkstatt:Das ist der letzte Schirmflicker der Schweiz

Der letzte Schirmflicker
Er hilft, wenn der Herbstwind den Regenschirm zerzaust

Mit Schirm, Charme und Ersatzkrone: Erich Baumann ist schweizweit der Letzte seiner Art und repariert kaputte Regen-, Sonnen- und Fotoschirme. Ein Besuch in seiner Werkstatt in der Nähe von Bern.
Publiziert: 23.11.2022 um 15:53 Uhr
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Aktualisiert: 23.11.2022 um 15:54 Uhr
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Nach einem Tief ist Erich Baumann (55) im Hoch: «Zieht Sturmwetter über die Schweiz, landen zehn Tage später Pakete voller kaputter Regenschirme bei mir», sagt er mit einem Lächeln. «Bumä», wie er sich vorstellt, ist der letzte Schirmflicker der Schweiz. Wohnhaft in Jegenstorf BE hat er im Nachbarort Münchringen BE eine Werkstatt in einem ehemaligen Schulhaus von 1876.

Im Zimmer, wo Kindergartenkinder noch bis 2005 Klötzchen aufeinanderschichteten, steht seit 2008 eine grosse Schrankwand im Raum mit über hundert tiefen Holzschubladen einer früheren Schirmfabrik. Jedes Schiebefach ist fein säuberlich nummeriert und enthält Ersatzteile aller Art, vom Griff zur Öse bis zur Krone. Gegenüber türmen sich dutzendfach lange Kartonrollen, aus denen unterschiedlichste Speichen hervorragen.

Über hundert tiefe Holzschubladen, gegenüber türmen sich dutzendfach lange Kartonrollen.
Foto: Thomas Meier

Die meist acht schmalen «Stängeli», die das Stoffdach aufspannen, sind die grösste Schwachstelle eines Schirms. Ein kräftiger Windstoss und – hui! – stülpt sich der Schirm um: Speichen verbiegen, brechen, oder Nieten bersten. Eine Musterwand mit verschiedenen Modellen zeigt Baumann, in welches Fach er greifen muss, um das entsprechende Ersatzteil für seine Reparatur zu finden.

Erfolgsquote liegt bei sagenhaften 99 Prozent

Sollte er einmal nicht fündig werden, so hat er noch eine Wand mit Hunderten, übereinandergeschichteten Schirmen aus Brockenhäusern und Fundbüros, die niemand mehr haben wollte. Baumann weidet sie aus und entnimmt ihnen intakte Teile, mit denen er Patienten flicken kann. «Schirmdoktor» nennt er sich ironisch und steht in der Mitte des Raums unter der hellen Leuchte an seinem «Operationstisch».

Er hält einen bunten Schirm in Händen. «Da bewegen sich Sachen, die sich nicht bewegen sollten», sagt er. «Meistens ist mehr kaputt als erwartet.» Er löst die Zwinge an der Stockspitze und entdeckt Leimspuren einer ganzen Tube. «Der Kunde hat wohl versucht, selber zu flicken», sagt er. Das mache alles nur schlimmer und gebe Zusatzarbeit. Aufwand, den der Schirmflicker nicht scheut, der ihn im Gegenteil zusätzlich anspornt.

Erich Baumann löst die Zwinge an der Stockspitze und entdeckt Leimspuren einer ganzen Tube.
Foto: Thomas Meier

Baumann liebt es, mechanische Geräte zu flicken; da kann er geduldig rumtüfteln, bis er das Problem findet. Als er mit vier älteren Schwestern in Heiligenschwendi BE oberhalb des Thunersees aufwuchs, spielte er gerne mit Lego oder Meccano und frisierte später als Jugendlicher sein Töffli. «Ich war schon damals erfolgreich», so Baumann, «das sagte mir auch die Polizei, wenn sie mich anhielt.»

Seine Erfolgsquote bei Schirmen liegt bei sagenhaften 99 Prozent: Bei rund tausend defekten Stück, die pro Jahr bei ihm landen, kann er bloss etwa zehn nicht flicken. Dabei versucht er alles, kann bis zu zwei Stunden an einem Schirm herumdoktern. «Es kann an einem kleinen Detail liegen», sagt Baumann. «Ich bin dann hocherfreut, wenn ich es finde und der Schirm wieder funktioniert.»

Baumann ist hauptberuflich Tram- und Buschauffeur

Um die schiere Menge im 20-Prozent-Pensum zu bewältigen, muss er im Schnitt drei Stück pro Stunde funktionstüchtig machen. Hauptberuflich ist Baumann Tram- und Buschauffeur bei Bernmobil. Auch hier hat er es gerne knifflig: «Ich bediene alle Linien rund um den Bahnhof Bern», sagt er. Seit elf Jahren hat er diesen anspruchsvollen Job. Zuvor war der gelernte Gärtner im Sozialbereich tätig.

Bei rund tausend defekten Stück, die pro Jahr bei ihm landen, kann er zehn nicht flicken.
Foto: Thomas Meier

Als sogenannter Arbeitsagoge begleitete er bei der Stiftung Gewa in Zollikofen BE Menschen bei der beruflichen Integration. Ende der 1990er begann Baumann dort mit vier Mitarbeitern Schirme zu flicken. Nachdem die Stiftung dieses Angebot aufgab, übernahm er es mit seiner Frau – sie macht den Kurierdienst und holt defekte Ware im nahen Bern ab, etwa bei der Annahmestelle im Warenhaus Loeb.

Kaputte Schirme der Annahmestelle Thun bekommt Baumann per Post zugestellt. Mittlerweile erreichen ihn Pakete aus der ganzen Schweiz. Ins Ausland will er nicht expandieren – wegen der hohen Zollgebühren. Eine Reparatur kostet beim «Schirmservice Erich Baumann» rund 30 Franken – die Rechnung für eine aufwendige Instandsetzung eines komplizierten Schirms kann auch einmal hundert Franken und mehr betragen.

«Wenn ich ihn zur Hand nehme, bekomme ich Hühnerhaut»

Baumann erzählt von einem teuren Rolls-Royce-Schirm, der in einem beheizten Türseitenfach der Edellimousine untergebracht war und beim Schliessen eingeklemmt wurde, worauf der Stock brach. «Da lohnt es sich, ein paar Franken mehr für die Restauration aufzuwerfen», sagt er. Der Autofan liess es sich nicht nehmen, den geflickten Schirm bei der Oldtimer-Garage in Zürich persönlich vorbeizubringen.

Baumann ist gerührt: «Wenn ich ihn zur Hand nehme, bekomme ich Hühnerhaut.»
Foto: Thomas Meier

Baumann läuft durch seine Werkstatt und greift nach einem raren Stück, das ihm gehört: ein klassischer Herrenschirm mit ziseliertem Griff, über hundertjährig, vermutlich aus englischer Produktion. Er spannt ihn auf, und ein nachtschwarzes Dach aus Seidenstoff entfaltet sich. Wenn Regen darauffällt, quillt die Seide auf und gibt besten Schutz. Baumann ist gerührt: «Wenn ich ihn zur Hand nehme, bekomme ich Hühnerhaut.»

Obwohl es in England häufig regnet, erfindet 1705 ein Pariser Kaufmann den modernen Regenschirm. Auf der britischen Insel ist er deshalb lange als «französisch» und Zeichen der «Verweiblichung» verpönt. Auch im deutschsprachigen Raum setzt er sich erst im 19. Jahrhundert durch. 1928 erlangt ein Unternehmen aus Solingen (D) das Patent für den zusammenfaltbaren Taschenschirm – der Knirps ist geboren.

Klein, kompakt und kaum Gewicht

Klein, kompakt und kaum Gewicht: Regenschirme werden immer komfortabler. Dank Vollautomatik lassen sie sich per Knopfdruck sofort ausfahren und aufspannen als auch wieder entspannen. Das müsste Tram- und Buschauffeur Baumann eigentlich begrüssen, denn so steigen die Passagiere bei Regen schneller aus und ein. Aber er sagt auch: «Je mehr Gelenke ein Schirm hat, desto schwächer ist er.»

Eine Wand mit hunderten Schirmen aus Brockenhäusern und Fundbüros.
Foto: Thomas Meier

Ob Erbstück vom Grossvater oder Billigschirm vom Kiosk: Grundsätzlich flickt Baumann alles. «Eine Kundin schickte mir einmal einen von H & M», sagt er. Die Reparaturkosten überstiegen den Materialwert bei weitem. Dennoch wollte sie den Schirm geflickt wissen, denn er war Teil einer Sonderedition. «Menschen haben eben oftmals eine emotionale Bindung zu einem Schirm», sagt Baumann.

Seien es Erinnerungen an einen Ferienort oder an einen Kuss unter dem aufgespannten Dach: Der Schirmdoktor vernimmt alle Art von Geschichten, die hinter dem fragilen Gestänge und dem bisschen Stoff stecken. Und manchmal kann er die Storys auch riechen. «Als ich ein Paket öffnete, kam mir eine üble Duftwolke entgegen, weil eine Katze immer gegen den Schirm pisste», sagt Baumann. «Dä Löukater!»

Der Sonnen- ist viel älter als der Regenschirm

Wenn es Katzen hagelt oder Hundewetter ist, dann benutzen wir Schirme hauptsächlich. Doch ursprünglich sind sie nicht gegen Niederschlag, sondern gegen die Sonne gedacht – erste Darstellungen reichen 4000 Jahre zurück und stammen aus dem alten Ägypten, Persien oder China. Erste schriftliche Erwähnungen finden sich in altgriechischen Texten von Aristophanes (450–380 v. Chr.) oder beim römischen Dichter Martial (40–104).

Die Werkstatt ist in einem ehemaligen Schulhaus von 1876 in Münchringen BE.
Foto: Thomas Meier

«Ich habe noch nie so viele Sonnenschirme geflickt wie in diesem Jahr», sagt Baumann. Er schätzt, dass etwa ein Fünftel der jährlich tausend Schirme, die bei ihm über die Werkbank gehen (neben einem kleinen Teil an Fotoschirmen), Sonnenschirme sind. Und angesichts der trockeneren und heisseren Sommer dürfte ihr Anteil zunehmen. «Schirme gegen die Sonne sind im Kommen», sagt Baumann.

Sonnigere Sommer, heftigere Herbststürme durch den Klimawandel: Dem letzten Schirmflicker dürfte die Arbeit nicht so schnell ausgehen. Und wenn er einmal aufhört? «Vielleicht interessiert sich eines meiner Kinder für die Arbeit», sagt Baumann. Er hat 31-jährige, zweieiige Zwillinge und eine 27-jährige Tochter – auf den letzten Schirmflicker folgt dann möglicherweise die letzte Schirmflickerin.

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