Auf einen Blick
Auf dem TV-Sender RTL+ buhlen derzeit 18 Damen um Rosenkavalier Franz Stärk. Dieser ist 73 Jahre alt, geschieden, seit zwölf Jahren single, Vater von zwei Söhnen und der erste deutsche «Golden Bachelor». Die Kandidatinnen sind alle über 60. Auch auf Netflix suchen gerade Menschen im Pensionsalter nach der Liebe ihres späteren Lebens: Das Format «Later Daters» wurde von der ehemaligen amerikanischen First Lady Michelle Obama (61) mitproduziert.
Ein Zeichen, dass das Tabuthema Sex und Liebe im Alter sich im Wandel befindet, sagt die Entwicklungspsychologin Pasqualina Perrig-Chiello. Das liege unter anderem daran, dass die Babyboomer, welche in den 70er-Jahren gegen autoritäre Strukturen und sexuelle Tabus gekämpft haben, sich heute gegen die vorherrschenden negativen Altersstereotypen wehren. «Dazu kommt, dass wir heute nicht nur länger, sondern auch länger in guter Gesundheit leben. Mit 70 sind die meisten fit und unternehmungslustig.» Tatsächlich zeigt eine schweizweite Studie unter Perrig-Chiellos Leitung, dass sich die Mehrheit der geschiedenen Menschen über 60 eine neue Beziehung wünscht.
Pasqualina Perrig-Chiello, ist es schwieriger, sich mit 62 zu verlieben als mit 17?
In jungen Jahren verliebt und entliebt man sich viel schneller als im Alter. Junge Leute haben eine grössere Auswahl, da in dem Alter alle auf der Suche nach Liebe, Beziehungen und Sex sind. Sie haben weniger Vorurteile und komplizierte Erwartungen. Im Alter ist es schwieriger: Die Auswahl ist kleiner, die Ansprüche sind höher, und aufgrund von Enttäuschungen sind viele vorsichtiger geworden.
Wo knüpfen ältere Menschen trotzdem neue Kontakte?
In unserer Studie gab ein Drittel der Befragten an, dass sie sich bei der Partnersuche auf Singlebörsen oder Chatrooms konzentriert haben. Ich gehe davon aus, dass dieser Anteil inzwischen sogar bei der Hälfte liegt. Die meisten Babyboomer sind also digital unterwegs. Erwähnt wurde zudem, dass man sich im Freundeskreis neu orientiert, aktiver am Vereinsleben teilnimmt und bei organisierten Gruppenreisen und Ausflügen mitmacht.
Wie spürt man, dass man bereit ist für eine neue Beziehung?
Menschen in einer Beziehung definieren sich insbesondere über das «Wir». Bei einer Scheidung oder Verwitwung bricht ein Teil weg, es entsteht eine Leere. Wenn man aufgehört hat, sich über das vergangene «Wir» zu definieren und sich als alleinstehende, eigenständige Person gefunden hat, ist man bereit für eine neue Beziehung.
Wie fühlt sich das genau an?
Man verspürt nicht mehr das grosse Verzehren nach dem «Wir», sondern schaut vorwärts und hat wieder Freude daran, im Leben zu stehen. Man fühlt sich wertvoll und bestärkt darin, Dinge allein durchziehen zu können. Das macht eine Person frei und offen für eine neue Beziehung. Manche Menschen spüren in dieser Freiheit, dass sie gar keine neue Partnerschaft brauchen, weil sie als Single komplett zufrieden sind.
Kann die Lebenserfahrung die Partnersuche erschweren?
Ja, kennzeichnend ist, dass mit dem Alter die Kompromissbereitschaft abnimmt. Das kann durchaus vorteilhaft sein, weil man besser Prioritäten setzen kann und genau weiss, was man will. Allerdings besteht das Risiko, dass man mit mangelnder Kompromissbereitschaft potenzielle Partnerinnen oder Partner vergrault. Zu hohe Ansprüche erschweren die Partnersuche ebenfalls.
Was ist der grösste Fehler, den ältere Menschen beim Daten machen?
Wenn sie sich aus Furcht vor der Einsamkeit in eine Beziehung stürzen. Zu glauben, dass die neue Partnerin oder der neue Partner einem die Einsamkeit und alle Sorgen nimmt, ist fatal. Nach einer Scheidung oder Verwitwung lassen sich Frauen meist mehr Zeit, sich selbst zu finden. Männer halten die Einsamkeit weniger gut aus und gehen häufig zu schnell eine neue Beziehung ein.
Warum ist das schädlich?
Weil es unfair gegenüber der neuen Partnerin oder dem neuen Partner ist. Man missbraucht sie oder ihn, um die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Eine Beziehung ist jedoch immer ein Geben und Nehmen.
Muss man die Vergangenheit zuerst aufarbeiten, um sich auf eine neue Partnerschaft einzulassen?
Die Vergangenheit ist Teil der eigenen Identität, und das darf man auch in eine neue Beziehung bringen. Der Blick muss aber im Hier und Jetzt und nach vorne gerichtet sein.
Welchen Einfluss haben eigene Kinder auf die neue Beziehung?
Kinder haben nicht selten Mühe, die neuen Partner ihrer Eltern zu akzeptieren. Emotional können Fragen aufkommen wie: «Warum hat meine Mutter den neuen Mann lieber als meinen Vater?» Häufig stellen sich auch praktische und finanzielle Fragen, etwa in Erbschaftsbelangen. Erwachsene Kinder können in Loyalitätskonflikte geraten, wenn die geschiedenen Eltern und ihre neuen Partner hilfs- und pflegebedürftig werden. Wer soll nun wem helfen? Diese Fragen müssen offen und proaktiv geklärt werden und nicht erst, wenn die Probleme anstehen.
Pasqualina Perrig-Chiello (72) war bis zu ihrer Emeritierung Professorin für Entwicklungspsychologie der Lebensspanne an der Uni Bern. Sie ist systemische Familientherapeutin und Expertin für die Themen Lebensmitte und Alter. «Wenn die Liebe nicht mehr jung ist» (Hogrefe 2017) und «Own Your Age. Stark und selbstbestimmt in der zweiten Lebenshälfte» (Beltz 2024) sind nur zwei ihrer zahlreichen Publikationen.
Pasqualina Perrig-Chiello (72) war bis zu ihrer Emeritierung Professorin für Entwicklungspsychologie der Lebensspanne an der Uni Bern. Sie ist systemische Familientherapeutin und Expertin für die Themen Lebensmitte und Alter. «Wenn die Liebe nicht mehr jung ist» (Hogrefe 2017) und «Own Your Age. Stark und selbstbestimmt in der zweiten Lebenshälfte» (Beltz 2024) sind nur zwei ihrer zahlreichen Publikationen.
Hat eine neue Beziehung im Alter eine andere Bedeutung als in jungen Jahren?
Ja, sie wird als Geschenk und nicht als Selbstverständlichkeit gewertet. Insbesondere, weil viele ältere Menschen wissen, wie sich Einsamkeit anfühlt. Aber auch im Alter ist das Ziel einer Partnerschaft, sich gegenseitig zu unterstützen und eine gute Balance zwischen individueller und gemeinsamer Entwicklung anzustreben.