Viele Vorurteile
Wieso ist Sex im Alter so ein grosses Tabu?

Das Vorurteil, dass mit dem Rentenalter auch das Sexleben in Pension gehe, hält sich hartnäckig. Aktuelle Studien zeigen, dass das nicht stimmt. Aber die Verunsicherung steigt oft im Alter. Ein Experte plädiert für Enttabuisierung – zum Beispiel in Altersheimen.
Publiziert: 11:05 Uhr
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Aktualisiert: 17:09 Uhr
Wer im Alter sexuell aktiv bleibt, kann länger leben.
Foto: F1online

Darum gehts

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Maja ZivadinovicFreie Journalistin Service-Team

Die Fähigkeit, Intimität zu erleben, bleibe im Alter fast unberührt, schreiben deutsche Forscher in der Fachzeitschrift «Psychology and Aging». Dies fanden sie in einer Studie heraus, in der sie sowohl Menschen zwischen 60 und 82 Jahren zu ihrer Sexualität befragten als auch solche zwischen 22 und 36 Jahren. Das überraschende Ergebnis: Die Unterschiede in Sachen Intimität sind minim. Auch gibt es kein Alter, in dem Lust und sexuelle Aktivität rapide abnehmen. Das bestätigt der Sexologe Ben Kneubühler im Interview. Und sagt: Was sich ändere, sei die Art und Weise, wie man Sex (er)lebt.

Blick: Ben Kneubühler, wieso ist Sex im Alter nach wie vor so ein grosses Tabu?
Weil unsere Gesellschaft «alt» und «sexy» leider immer noch als Widerspruch betrachtet. Wer älter wird, soll Weisheit ausstrahlen, aber keine Lust. Dahinter steckt ein Ausdruck tief verankerter Altersbilder. Dabei ist sexuelle Ausdrucksfähigkeit keine Frage des Geburtsjahres, sondern ein zutiefst menschliches Bedürfnis.

Dabei zeigen Studien, dass Seniorinnen und Senioren durchaus noch sexuell aktiv sind.
Ja, das sind sie. Zahlen variieren, aber rund die Hälfte berichtet von sexueller Aktivität – und das jenseits von Penetration. Die Sexualität wird oft achtsamer. Weniger Performance, mehr Präsenz. Der Körper meldet sich mit neuen Tönen – und fordert Menschen, langsamer zu werden. Dies bedeutet nicht Verlust. Im Gegenteil: Viele erleben im Alter eine neue Freiheit, jenseits des Leistungsdrucks der Jugend. Man lässt die Checkliste los und entdeckt wieder den Moment. Sexualität wird mehr zu einem Dialog als zu einem Sprint.

Ben Kneubühler ist Psychologe und Sexologe. In der Stadt Zürich betreibt er seine eigene Praxis.
Foto: zVg

Sexualität ist ein Grundbedürfnis, nimmt dieses im Alter ab?
Für die meisten Menschen bleibt das Bedürfnis nach Nähe, Berührung und Intimität oft ein Leben lang bestehen. Die Lust nach erotischem Austausch kann abnehmen, sich aber auch verstärken – zum Beispiel, wenn der Lebensstress nachlässt oder wenn neue Partnerschaften entstehen.

Was tun, wenn das Bedürfnis noch da ist, man aber Mühe hat mit dem Alterungsprozess und der Nacktheit?
Diese Unsicherheit haben viele – unabhängig vom Alter. Der Unterschied ist, dass ältere Menschen seltener lernen durften, liebevoll auf ihren Körper zu schauen. Was hilft? Sich selbst so begegnen, wie man einem geliebten Menschen begegnet: mit Milde, mit Stolz auf die Geschichten, die der Körper erzählt. Und auch mit Humor – denn ein Körper, der geliebt wurde und liebt, darf Spuren tragen.

Was, wenn nach 40 Jahren Ehe nur noch ein Partner das Bedürfnis nach Sex hat und der oder die andere nicht?
Dann beginnt die eigentliche Beziehungsarbeit – nämlich die, in der keine Automatismen mehr greifen. Unterschiedliche Bedürfnisse gehören zum Menschsein. Wichtig ist, dass sie nicht totgeschwiegen werden. Schweigen macht einsam. Sprechen kann Verbindung schaffen – auch wenn es nicht sofort eine Lösung bringt. Und oft zeigt sich: Hinter dem «Ich will nicht» steckt nicht einfach keine Lust, sondern ein «Ich weiss nicht, wie». Und das lässt sich verändern.

Im Alter leiden Frauen oft unter Scheidentrockenheit, Männer unter Erektionsstörungen. Bedeuten diese Hürden das Ende der Sexualität?
Nicht zwingend. Medizinische Unterstützung kann hilfreich sein, doch mindestens genauso wichtig ist eine veränderte Haltung zur Sexualität. Weniger in bekannten Mustern verharren, mehr Erkundung von Berührung, Rhythmus, Atmung und Körperspannung, mehr Spiel und Bewegung im sexuellen Austausch – all das kann neue Zugänge eröffnen. In der sexualtherapeutischen Arbeit sehen wir, dass sexuelle Erregung ein erlernter körperlich-psychischer Prozess ist. Das heisst: Auch im Alter kann man lernen, den eigenen Körper (wieder) als lustfähig zu erleben. Es geht nicht um «wieder funktionieren», sondern um neu entdecken, wie Lust entsteht und sich ausbreiten darf. Sexualität wird so zu einem Raum der Verbindung, nicht der Prüfung.

Wie wirkt sich Sexualität auf Körper und Seele aus im Alter?
Sie kann einen unglaublich positiven Einfluss haben. Sie fördert die Ausschüttung von Endorphinen und Oxytocin, was zu einem allgemeinen Wohlgefühl führt und Stress abbaut. Der Körper profitiert durch die Erhöhung der Durchblutung und den Erhalt der körperlichen Fitness. Und seelisch gesehen kann Sexualität Nähe, Geborgenheit und das Gefühl von Verbundenheit stärken. In vielen Fällen trägt es dazu bei, das Selbstwertgefühl zu steigern.

Ist dieses Thema eigentlich auch in Altersheimen präsent?
Die Realität ist, dass auch in Pflegeeinrichtungen der Wunsch nach körperlicher Nähe und Sexualität nicht verschwindet – ganz im Gegenteil! Hier müssen wir als Gesellschaft noch viel mehr tun, um diesen Bedürfnissen gerecht zu werden. Es gibt aber zunehmend Bemühungen, dies zu enttabuisieren. Manche Einrichtungen bieten Sexualberatung an oder haben ein offenes Ohr für die Bedürfnisse ihrer Bewohnenden.

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