Not macht erfinderisch. Dies erklärt, weshalb Tessiner Baumeister jahrhundertelang auf Wanderschaft gingen. In ihren mausarmen Dörfern gab es oft nicht einmal das sprichwörtliche Hungertuch, an dem sie hätten nagen können. Geschweige denn Auftraggeber für prunkvolle Bauten. Diese fanden sie in Rom, Neapel und Venedig, in Wien, Prag, Moskau und St. Petersburg. Dort prägen heute zahlreiche Kirchen, Paläste und öffentliche Gebäude das Stadtbild, auf die das Prädikat Swiss made zutrifft.
So ist es kein Witz, dass der österreichische Bundespräsident in einem Trakt der Hofburg residiert, der von einem Schweizer erbaut wurde. Filiberto Lucchese hiess der Mann, der Mitte des 17. Jahrhunderts als kaiserlicher Hofarchitekt den barocken Baustil in Wien salonfähig machte. Sein Heimatort: Melide am Luganersee. Aus dem Nachbardorf Carona stammt die Familie Solari, die über Generationen hinweg den Leiter der Mailänder Dombauhütte stellte. Einer von ihnen, Pietro Antonio Solari, folgte 1490 dem Ruf des Zaren und baute in Moskau die Mauern und Türme des Kremls.
Einfluss im barocken Rom
Die Sternstunde von Domenico Fontana aus Melide schlug 1585, als er einen 320 Tonnen schweren antiken Obelisken auf den Petersplatz in Rom transportierte und dort aufrichtete, eine Herkulesaufgabe, die man für ein Ding der Unmöglichkeit gehalten hatte. Der smarte Carlo Maderno aus Capolago vollendete das Werk von Michelangelo und gab dem Petersdom seine heutige Gestalt, während der geniale Francesco Borromini aus Bissone das barocke Rom um Sehenswürdigkeiten bereicherte, die Besucher bis heute in ehrfürchtiges Staunen versetzen.
Andere Architekten und Ingenieure sind in Vergessenheit geraten, obwohl sie ebenfalls Grossartiges schufen. Der tschechische Aussenminister residiert in Prag in einem Palast, den Francesco Caratti aus Bissone konzipierte. Die Moskauer Universität basiert auf Plänen von Domenico Gilardi aus Montagnola. Und dank Gaspare Fossati aus Morcote kann eines der bedeutendsten Bauwerke der Menschheit immer noch in voller Pracht bewundert werden: Er bewahrte die antike Hagia Sophia in Istanbul, das achte Weltwunder, Mitte des 19. Jahrhunderts mit einer Totalsanierung vor dem Einsturz.
Ein Landgut für eine Stadt
Bevor er in den Dienst des Sultans trat, war Fossati in St. Petersburg tätig gewesen. Wie vor ihm schon Domenico Trezzini aus Astano. Er schuf ab 1703 für Zar Peter den Grossen an der Newa-Mündung aus dem Nichts eine neue Hauptstadt. 65 Gebäude gehen auf sein Konto, darunter die Peter-und-Paul-Kathedrale und der Sommerpalast des Zaren. Um seine Nachkommen vor Not und Armut zu bewahren, bat Trezzini Zarin Anna Iwanowna, ihm als Dank für sein Engagement das Landgut Sarezkaja «samt Dorf, Untertanen, Bauern, Feldern, Äckern, Wäldern und allem, was dazugehört» zu schenken. In den Akten ist dazu bloss vermerkt: «Bitte am 21. Juli 1730 gutgeheissen.»
Omar Gisler hat bereits mehrere Bücher über Fussball, Reisen und Geschichte geschrieben. Er ist 1976 in Altdorf UR geboren und war lange als Tessin-Korrespondent für die Schweizerische Depeschenagentur (SDA) und die «Neue Zürcher Zeitung» (NZZ) tätig. Heute leitet er die Abteilung Marketing und Kommunikation am Kantonsspital Baden AG.