Auf einen Blick
Ein Kind auf dem Schoss, die Kleidung auf der Haut oder nur schon die Berührung der Bettdecke verursachen starke Schmerzen. Das ist die Realität vieler Frauen. Sie leiden an einer Erkrankung des Fettgewebes, dem Lipödem. Wie viele Menschen in der Schweiz tatsächlich betroffen sind, lässt sich nicht genau sagen. Obwohl in den letzten Jahren viel Aufklärungsarbeit geleistet wurde, gehen Experten von einer hohen Dunkelziffer aus, da viele Betroffene nichts von ihrer Krankheit wissen.
Heidi Schmid-Ackermann (56), Gründerin und ehemalige Präsidentin der Vereinigung Lipödem Schweiz, führt dies auf einen zentralen Punkt der Erkrankung zurück. Es sind fast ausschliesslich Frauen betroffen. «Wäre es eine Männerkrankheit, hätten wir längst eine Lösung», ist sie überzeugt. Das sieht auch das Parlament so: Erst letztes Jahr stimmte es dafür, die gezielte Förderung der Erforschung spezifischer Frauenkrankheiten und ihrer Behandlung zu verbessern. Es gebe zahlreiche Krankheiten, wie das Lipödem, die überwiegend Frauen beträfen aber in der Forschung hinterherhinken, begründete die Gesundheitskommission ihren Vorstoss. Doch was weiss man bereits über das Lipödem? Zwei Experten geben Auskunft.
Der unsichtbare Schmerz wird sichtbar
Das Lipödem äussert sich durch eine unproportionale Fettverteilung – meist an Beinen, Hüften oder Armen, die in Kontrast zum restlichen Körper steht. Betroffene klagen über Schmerzen, die bereits durch leichte Berührungen ausgelöst werden, oder als dumpfer Druckschmerz ständig vorhanden sind.
Schmerzen und Schwellungen sind Leitsymptome des Lipödems, weshalb es bei Betroffenen zu einem erhöhten Leidensdruck kommt. «Die Beine fühlen sich schwer und gespannt an», erklärt Mario Scaglioni (43), Spezialist für Lipödem und Mitinhaber der Plastic Surgery Pyramide. Anders als beim Lymphödem, bei dem sich Wasser im Gewebe eines Beines oder Armes sammelt, sind beim Lipödem immer beide Gliedmasse gleichermassen betroffen. Lymphödeme verursachen in der Regel auch keine Schmerzen.
Warten auf die Diagnose
Die Ursache des Lipödems ist nicht gänzlich geklärt. Experten vermuten eine hormonelle und genetische Komponente, ergänzt durch Lebensstilfaktoren wie Übergewicht, ungesunde Ernährung und mangelnde Bewegung. Häufig dauert es Jahre, bis die Diagnose gestellt wird. «Viele Ärzte kennen die Krankheit nicht gut genug oder stufen die Beschwerden als Übergewicht ein», sagt Heidi Schmid-Ackermann, die regelmässig im Austausch mit Betroffenen steht und selbst ein Lipödem hat.
Um eine klare Diagnose zu stellen, sind Fachärzte für Gefässkrankheiten wie Angiologen oder Venenspezialisten notwendig. Neben einer klinischen Untersuchung führt die Fachperson einen Ultraschall durch und tastet die betroffene Stelle ab. «Das pralle, fibrotische Fettgewebe fühlt sich ganz anders an, als normales Fettgewebe», erklärt Scaglioni.
Behandlung: Konservativ oder operativ?
Die offizielle medizinische Leitlinie für das Lipödem ist erst im Januar dieses Jahres in der Schweiz in Kraft getreten. Sie enthält wissenschaftlich fundierte Empfehlungen für die Therapie des Lipödems. Zuvor war es teilweise schwierig, eine Kostendeckung der Krankenkasse für einige Behandlungspunkte und die operativen Massnahmen zu erhalten.
Ist ein Lipödem als solches erkannt, kommt zuerst eine konservative Therapie zum Zug, die das Ziel hat, die Schmerzen zu lindern und so die Lebensqualität zu verbessern. Sie umfasst fünf Säulen:
- Kompressionsstrümpfe: Sie reduzieren Schwellungen und den Druck auf die Nerven.
- Bewegung: Besonders gelenkschonende Sportarten wie Schwimmen oder Radfahren helfen, die Durchblutung zu fördern.
- Ernährung: Eine ausgewogene Kost oder speziell antientzündliche Ernährung reduziert Entzündungen und Fibrose im Körper und kann so Schmerzen mindern.
- Manuelle Lymphdrainage: Eine spezielle Massagetechnik unterstützt den Abtransport von Flüssigkeit.
- Psychotherapie: Die Krankheit kann belastend sein, auch für den Geist. Darüber reden hilft.
Ist der Leidensdruck trotz konservativer Behandlung noch immer zu stark, empfehlen die Leitlinien den operativen Eingriff. Das krankhaft vermehrte Fettgewebe soll dann abgesaugt werden – der Eingriff nennt sich Liposuktion. Besonders im fortgeschrittenen Stadium kann eine Absaugung zu Entlastung und einer Schmerzlinderung führen. Bei der Absaugung eines Lipödems sind, im Gegensatz zum kosmetischen Eingriff, mehrere Eingriffe notwendig. Scaglioni führt pro Patientin drei bis vier Operationen durch.
Ein Heilmittel ist die Liposuktion aber nicht: «Eine Operation lindert Schmerzen und reduziert das Volumen, aber die Krankheit bleibt bestehen», betont Scaglioni. Seit zwei Jahren übernimmt die Krankenkasse in der Schweiz die Kosten, wenn konservative Massnahmen nachweislich nicht ausreichen. In den Leitlinien wird aber betont, dass die Absaugung in frühen Stadien bessere Ergebnisse erziele.
Zwischen Scham und Akzeptanz
Für viele Frauen ist nicht nur der körperliche Schmerz belastend, sondern auch die psychische Komponente. «Scham ist ein grosses Thema», sagt Schmid-Ackermann. Betroffene ziehen sich oft zurück, meiden das öffentliche Leben. Auswärts Essen ist ihnen unangenehm, da sie vor Vorurteilen wegen ihrer dicken Extremitäten fürchten. Zusätzlich belastet sie, dass die Krankheit ein Leben lang bleibt, das kann das Gefühl von Hoffnungslosigkeit auslösen.
Schmid-Ackermann findet es daher wichtig, zu betonen, dass mit konsequenter Kompressionstherapie, Anpassung der Ernährung und regelmässiger Bewegung eine bessere Lebensqualität erzielt werden kann. Eine Liposuktion kann die Krankheit nicht heilen, hilft jedoch vielen Patientinnen die Schmerzen zu verringern, erzählt sie aus eigener Erfahrung. Wichtig ist auch, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen und Unterstützung zu suchen. Nur so wird das Lipödem Teil des gesellschaftlichen und medizinischen Diskurses.