Hast du einen Ordnungszwang?
Wenn Aufräumen nicht mehr «normal» ist

Wer es mit Aufräumen übertreibt, kann sich selbst und Angehörige stark belasten. Ab welchem Ausmass ist Pedantismus nicht mehr «normal»? Michael Rufer (57), Chefarzt an der Klinik Zugersee, klärt auf.
Publiziert: 17.10.2023 um 13:50 Uhr
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Aktualisiert: 17.10.2023 um 14:29 Uhr
Ab wann wird Ordnungszwang zum Problem?
Foto: Getty Images/Westend61
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Jonas DreyfusService-Team

Wer Kinder hat oder im Homeoffice arbeitet, kennt es am besten: Wo man im Wohnzimmer, im Bad, im Heimbüro auch hinsieht – überall fallen einem Dinge auf, die man (oder jemand anderer) aufräumen, ordnen und entsorgen sollte.

Bin ich einfach «typisch schweizerisch» und mag, wenn alles an seinem Platz ist – oder geht das ins Krankhafte, mag sich mancher fragen. Vor allem, wenn er zu Hause keine Sekunde entspannen kann, weil er eine unendliche To-do-Liste abarbeiten muss.

Oftmals weisen einen Menschen, mit denen man zusammenlebt, mehr oder weniger sachte darauf hin, dass dieser Pedantismus schon nicht mehr ganz normal sei. Was kann man dagegen tun?

Nichts wie raus aus der Wohnung!

«Vielleicht versucht man erst einmal, die Wohnung oder das Haus, in dem man lebt, zu verlassen, anstatt aufzuräumen, sagt Michael Rufer, Chefarzt in der Klinik Zugersee, Zentrum für stationäre Psychiatrie und Psychotherapie. So ändere man die Reaktion auf diesen Ordnungszwang ganz bewusst.

Rufer ist Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Zwangsstörungen und beschäftigt sich seit 25 Jahren mit Zwangshandlungen und Zwangsgedanken.

Er behandelt auch Menschen, die an einem Ordnungszwang leiden. Bei manchen von ihnen müssen Magazine geometrisch genau ausgerichtet auf dem Couchtisch liegen – und wenn sie das nicht tun, fühlen sich die Betroffenen extrem unwohl.

Bitte nicht berühren! Wer einen Ordnungszwang hat, ordnet Dinge oft mithilfe eines Rasters.
Foto: Getty Images/Westend61

Sie vereinsamen mit der Zeit, weil keiner mehr mit ihrem Ordnungssystem leben kann. Dieses nimmt manchmal so viel Zeit und Energie in Anspruch, dass die Leistungsfähigkeit bei der Arbeit oder anderen Tätigkeiten, die nicht das Aufräumen betreffen, irgendwann nicht mehr vorhanden ist.

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«Sie mussten sich irgendwann eingestehen: Ich kann das nicht»
Michael Rufer
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Alle Patienten, die mit solchen Problemen zu ihm kämen, würden erzählen, dass sie erst einmal selbst versucht hätten, ihr Verhalten zu ändern, sagt Rufer. «Sie mussten sich irgendwann eingestehen: Ich kann das nicht.» Wer also in der Lage sei, seine Wohnung versuchsweise für ein paar Tage unaufgeräumt zu lassen, und in keine Krise verfalle, könne sich in den meisten Fällen selbst helfen und sei deshalb nicht auf professionelle Unterstützung angewiesen. 

Aufräum-Königin Marie Kondo in einer Wohnung, in der sie sich am wohlsten fühlt.

Wichtig ist gemäss Rufer, dass man nicht nur einen allgemeinen Vorsatz fasst, sondern systematisch daran arbeitet, dass man das, was einem nicht guttut, loswird. Dazu gehöre, sich zu fragen, was hinter dieser übertriebenen Ordnungsliebe stecken könnte. «Oftmals ist es etwas, was den Betroffenen beunruhigt», sagt Rufer.

Er befürchtet zum Beispiel, dass er die Kontrolle im Leben verlieren könnte. Als Folge muss in seinen Augen etwas getan werden, das diese unangenehmen Gefühle reduziert – Aufräumen liegt auf der Hand. Jeder Mensch habe seltsame Gedanken, die nichts mit seiner Person zu tun hätten, sagt Ruf. «Wer sich das vor Augen hält und die Gefühle nicht überbewertet, läuft weniger schnell in Gefahr, zwanghaft zu werden.»

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