Wie lustlos das Leben zum Jahresbeginn geworden ist. Niemand trinkt mehr Alkohol, jeder ist mit irgendeiner als Fastenkur getarnten Diät beschäftigt. Einer meiner Kollegen sieht sich gerade nach einer Einzimmerwohnung um, weil er findet, zwei Zimmer für eine Person seien zu viel. Mehr Askese geht nicht.
Und dann noch meine Freunde in den sozialen Medien, die mir ihre leer gefegten Wohnungen zeigen. Schuld ist Marie Kondo. Die japanische Entrümpelungsexpertin plädiert für Reduktion – und ist gerade Heilsbringerin für alle, die sich nach fernöstlicher Bescheidenheit sehnen.
Ich habe es auch getan. Nachdem ich mir ein paar Folgen der erfolgreichen Netflix-Serie «Aufräumen mit Marie Kondo» angesehen hatte, beschloss ich, meine Hosen nach ihrer Anleitung zusammenzulegen. Nicht dass es nötig gewesen wäre. Aber man will ja dabei sein.
Das Spitzchen, das vor allem bei gefalteten Jeans immer heraussteht, faltete ich brav nach innen. Dann – ganz wichtig – teilte ich die Hosenbeine in drei Teile ein, um sie zu falten. Es ist so etwas wie die Kondo’sche Dreifaltigkeit: Bei ihr wird immer alles gedrittelt.
Wir horten so manchen unnötigen Kram zu Hause, aber ausmisten wollen wir nicht. Die Japanerin Marie Kondo nimmt das für uns in die Hand und zeigt auf Netflix, wie man entspannt Ordnung ins Chaos bringt.
Wir horten so manchen unnötigen Kram zu Hause, aber ausmisten wollen wir nicht. Die Japanerin Marie Kondo nimmt das für uns in die Hand und zeigt auf Netflix, wie man entspannt Ordnung ins Chaos bringt.
Der mit den Badehosen spricht
Dann kamen die Badehosen an die Reihe, die sich in den letzten zehn Jahren angesammelt haben. Jede Saison kam eine neue hinzu. Das wäre eigentlich der Moment gewesen, in dem ich Kondos Technik des Entrümpelns hätte anwenden müssen. Das heisst: Die Badehose in die Hand nehmen und mich fragen, ob sie bei mir Freude aufkommen lässt.
«Sparking joy» wird das von der Übersetzerin genannt, die in der Netflix-Serie Kondos Japanisch ins Englische übersetzt. Wenn ein Objekt keine joy sparkt, muss man sich bei ihm – so will es Kondo – wörtlich für die schöne gemeinsame Zeit bedanken, bevor man sich von ihm trennt.
Da sass ich also im Zwiegespräch mit einem Paar Surfershorts kniend auf dem Klötzliparkett und spürte nicht viel – ausser dass ich mir albern vorkam. Hatte ich nichts Besseres zu tun, als mich mit meinen Kleidern zu unterhalten? Es fiel mir einiges ein. Mal wieder in eine Bar gehen und mit jemandem, der keine Alkoholpause macht, mit einem Bier anstossen, zum Beispiel. Mal wieder mit grossen Bissen eine Cremeschnitte verschlingen. Oder etwas kaufen, das ich absolut nicht brauche. Eine neue Badehose zum Beispiel.
I want it all. And I want it now!
Wie lange kann sich ein Mensch reduzieren, bis er sich in Luft auflöst, fragte ich mich, und wünschte mir mehr Mut zur Üppigkeit. Ich denke an Wohnungen, denen man ansieht, dass jemand in ihnen wohnt, an mit Bildern überfüllte Wände. Eine Spritztour in einem politisch nicht korrekten Vintage Car mit Zwischenstopp in einem Burger-Restaurant, wo das Essen vor Fett nur so trieft. Das wärs!
Mir kommt Freddie Mercury in den Sinn, der sang: «I want it all. I want it all. I want it all. And I want it now!» Er und Kondo hätten sich nichts zu sagen gehabt.
In den USA hat sie offenbar am meisten zu tun, sonst würde ihre Serie nicht dort spielen. In jeder Folge besucht sie Menschen zu Hause, um ihnen das Aufräumen beizubringen. Man darf wohl sagen, dass Amerikaner das Konzept des Wenig-besitzen-Wollens nicht gerade mit der Muttermilch aufsaugen. Wie kann ein zehnjähriger Junge schon Wandschränke voller Wegwerfmode besitzen, fragt sich der Zuschauer. Schön und gut, dass Kondo dort mal nach dem Rechten sieht.
Schweizer brauchen jedoch keine Anleitung zum Aufräumen – das kann jeder Reporter bestätigen, der Menschen in unserem Land für Storys zu Hause besucht. Unsere Wohnungen sind so picobello wie ein Ikea-Showroom, sonst würden wir gar niemanden reinlassen.
Umso befremdlicher, dass die Kondoisierung auch bei uns zum Massenphänomen avanciert. Menschen werfen offenbar panisch Ballast ab, als müssten sie in einem Gasballon vor etwas fliehen.
Für jede Emotion eine Tupperware-Box
Der Entrümpelungshype hat etwas Zwanghaftes, passt jedoch in den Trend hin zur Selbstoptimierung. Jeden Lebensbereich des Privaten wollen wir unter Kontrolle kriegen. Bei der Partnersuche im Internet gehen wir vor, wie wenn wir jemanden für unsere Firma einstellen wollten. Unser Essen wägen wir ab, um nicht zuzunehmen, oder wollen zumindest ganz genau wissen, welche Zutaten wir in unseren Körper lassen. Für jede Stimmungsschwankung gibt es eine spezifische Atemübung in unserer Achtsamkeits-App auf dem iPhone.
Für jede Emotion eine Tupperware-Box – das wäre uns am liebsten. Und wenn wir unsere Kleider nicht auf Origami-Niveau und nach Farben geordnet in Schubladen verstauen, befürchten wir, dass uns das Leben entgleitet.
Vielleicht sollten wir jemanden haben, der uns lehrt, Unordnung zu schätzen. So könnten wir lernen, keine so hohen Ansprüche an uns zu haben. Ansprüche, denen wir niemals gerecht werden können. Denn spätestens wenn das letzte T-Shirt gefaltet, die letzte Krawatte gerollt und das letzte Möbelstück entsorgt ist, werden wir merken, dass man den Gefühlshaushalt nicht aufräumen kann.