Frau Dénervaud, stimmt der Eindruck, dass Mobbing zunimmt?
Bettina Dénervaud: Wir von der Fachstelle Hilfe bei Mobbing für Schulen und Eltern haben das Gefühl, dass es mehr Mobbingfälle gibt. Aber leider gibt es keine aktuelle Studie zur Schweiz, die neuste ist aus dem Jahr 2018. Diese zeigte, dass im Vergleich zu 2015 Mobbing in sämtlichen Kategorien zugenommen hatte.
Wieso?
Es kann gut sein, dass man schlicht sensibilisierter für das Thema ist. Früher dachten die Eltern eher: Was in der Schule passiert, geht mich nichts an. Die Kinder sollten das selber regeln. Heute schauen wir genauer hin.
Könnte auch Mobbing im Internet für den Anstieg verantwortlich sein?
Cybermobbing ist eine erweiterte Form des klassischen Mobbings. Die Forschung zeigt, dass Cybermobbing dann entsteht, wenn herkömmliches Mobbing schon im Gange ist. Eine Gruppe in Zürich käme nie auf die Idee, einen Schüler aus Bern zu mobben, den sie nicht kennen. Wenn das klassische Mobbing gelöst wird, hört fast immer automatisch auch das Cybermobbing auf.
Ist es für das Opfer schlimmer, wenn es zusätzlich im Internet gemobbt wird?
Früher hörte das Mobbing an der Haustüre auf. Jetzt ist das Smartphone überall. Cybermobbing kann rund um die Uhr gehen, es gibt keine Grenzen mehr. Dadurch steigt die psychische Belastung. Die Betroffenen haben keine Räume mehr zum Durchatmen.
Studien aus früheren Jahren zeigen, dass mindestens jedes siebte Kind in der Schweiz gemobbt wird. Unternehmen wir als Gesellschaft zu wenig, um Mobbing zu verhindern?
Es wird immer noch ungern hingeschaut, weil das Thema unangenehm und tabuisiert ist. Es gibt durchaus vorbildliche Schulen, die ein Mobbingkonzept haben. Aber ich habe leider schon oft erlebt, dass Verantwortliche schlecht reagieren.
Was machen Schulen falsch?
Der Alltag ist je nach Klasse anstrengend, und manchmal haben die Lehrer schlicht keine Ressourcen, um sich vertieft mit einem Mobbingfall auseinanderzusetzen. Sie hoffen auf eine schnelle Lösung, indem sie eine Strafe gegen die Täter aussprechen und die Eltern kontaktieren. Oder sie sagen, das Opfer könne die Klasse wechseln. Aber meistens funktioniert das nicht.
Wieso nicht?
Die Täter fühlen sich bedroht. Sie verteidigen sich, schieben die Schuld dem Opfer zu. Und danach wird das Mobbing oft noch schlimmer.
Was empfehlen Sie denn?
Meine Fachstelle arbeitet unter anderem mit dem «No Blame Approach», der in Deutschland seit zwanzig Jahren etabliert ist. Das wichtigste Prinzip: Es gibt keine Strafen. In einem ersten Gespräch gewinnen wir das Vertrauen des Opfers. Danach laden wir möglichst rasch sechs bis acht Personen ein, auf jeden Fall die Täter, ein paar Mitläufer sowie neutrale Schülerinnen und Schüler.
Und dann?
Wir oder die Lehrperson – je nachdem, wer das Gespräch leitet – vermittelt unmissverständlich: Mir persönlich ist es wichtig, dass jedes Kind ohne Angst in die Schule kommen kann. Danach soll die Gruppe Ideen zusammentragen, was sie gegen das Mobbing tun können. Dabei setzen wir auf die Stärken aller Anwesenden. Der Lehrer sagt zum Beispiel dem Haupttäter: «Du hast einen guten Stand in der Klasse, die anderen hören auf dich.» Als dritten Schritt folgen nach acht bis vierzehn Tagen nochmals Einzelgespräche mit den involvierten Schülern, das sorgt für Verbindlichkeit.
Und das funktioniert?
Es klingt erstaunlich, ich weiss. Es ist schwierig, die ganze Intervention in wenigen Sätzen zu erklären. Aber es ist, wie wenn man an einem Zahnrädchen innerhalb eines Systems dreht, und dann beginnen sich alle anderen auch zu drehen. Umfassende Studien aus Deutschland beweisen, dass diese Methode in über 85 Prozent der Fälle das Mobbing innerhalb von zwei Wochen erfolgreich auflöst.
Was ist die Rolle der Eltern bei dieser Methode?
Am besten gar keine. Die Schule kann die Eltern informieren, aber sie sollten sich nicht einmischen. Oft haben die Eltern den Impuls, die Eltern des Haupttäters zu kontaktieren. Aber das verschlimmert die Situation nur.
Aber was sollten denn Eltern tun, wenn ihr Kind erzählt, dass es gemobbt wird?
Zuhören, es ernst nehmen, keine Schuld zuweisen. Ihm bestätigen, dass an ihm nichts falsch ist. Und klar sagen: Hilfe holen ist nicht petzen. Ihm zusichern, dass sie nichts unternehmen, was die Situation verschärft. Danach können sie die Schule kontaktieren und ein Gespräch mit der Lehrperson fordern.
Mobbing findet oft im Verborgenen statt. Die Opfer schweigen aus Angst, dass das Gehänsel noch schlimmer wird, wenn sie es den Eltern erzählen. Jüngere Kinder können ihre Emotionen schlechter verstecken, bei Jugendlichen hingegen kann ein Mobbingfall sehr lange im Versteckten andauern.
Anzeichen, dass ihr Kind gemobbt wird, sind:
- Es zieht sich zurück
- Es ist bedrückt oder müde
- Es geht nicht mehr gerne in die Schule
- Die Schulleistungen nehmen ab
- aggressives Verhalten, vermehrte offene Konflikte mit Mitschülern
- unerklärliche Bauch- oder Kopfschmerzen
- nervöse Reaktion auf Nachrichten am Smartphone
Eltern sollten das Kind ansprechen und zum Beispiel fragen: «Ist alles okay in der Schule? Ich merke, dass du nicht mehr gerne hingehst.» Stellen Eltern fest, dass ihr Kind gemobbt wird, sollten sie die Lehrperson um ein Gespräch bitten.
Eine Therapie, um das erlebte Mobbing aufzuarbeiten, hält Expertin Bettina Dénervaud besonders bei lang andauernden Fällen für sinnvoll. Allerdings erst, wenn das Mobbing vorbei ist.
Mobbing findet oft im Verborgenen statt. Die Opfer schweigen aus Angst, dass das Gehänsel noch schlimmer wird, wenn sie es den Eltern erzählen. Jüngere Kinder können ihre Emotionen schlechter verstecken, bei Jugendlichen hingegen kann ein Mobbingfall sehr lange im Versteckten andauern.
Anzeichen, dass ihr Kind gemobbt wird, sind:
- Es zieht sich zurück
- Es ist bedrückt oder müde
- Es geht nicht mehr gerne in die Schule
- Die Schulleistungen nehmen ab
- aggressives Verhalten, vermehrte offene Konflikte mit Mitschülern
- unerklärliche Bauch- oder Kopfschmerzen
- nervöse Reaktion auf Nachrichten am Smartphone
Eltern sollten das Kind ansprechen und zum Beispiel fragen: «Ist alles okay in der Schule? Ich merke, dass du nicht mehr gerne hingehst.» Stellen Eltern fest, dass ihr Kind gemobbt wird, sollten sie die Lehrperson um ein Gespräch bitten.
Eine Therapie, um das erlebte Mobbing aufzuarbeiten, hält Expertin Bettina Dénervaud besonders bei lang andauernden Fällen für sinnvoll. Allerdings erst, wenn das Mobbing vorbei ist.
Was, wenn die Schule keine Strategie hat?
Das kommt leider vor. Manchmal begleite ich Eltern, die uns zum Gespräch mitnehmen als neutrale Fachstelle. Ich besuche immer wieder Schulen, die sehr offen dafür sind. Aber ich habe leider auch schon Familien begleitet, die schliesslich umziehen mussten, weil das Mobbing weiterging und die Schule das Gefühl hatte, genug dagegen unternommen zu haben.
Was müsste sich ändern, damit die Situation besser wird?
Unsere Fachstelle findet, dass den angehenden Lehrerinnen und Lehrern an den Pädagogischen Hochschulen zu wenig Wissen über Mobbing vermittelt wird. Den «No Blame Approach» sollten alle kennen sowie auch Strategien, um Mobbing möglichst früh zu erkennen.
Bettina Dénervaud hat ihre Ausbildung zum Lerncoach an der Akademie für Lerncoaching in Zürich absolviert. Sie betrieb jahrelang eine Sprachschule und eine Lerncoach-Praxis in Schönbühl BE. Seit 2019 führt sie zusammen mit Pascal Kamber zusätzlich die Fachstelle Hilfe bei Mobbing.
Bettina Dénervaud hat ihre Ausbildung zum Lerncoach an der Akademie für Lerncoaching in Zürich absolviert. Sie betrieb jahrelang eine Sprachschule und eine Lerncoach-Praxis in Schönbühl BE. Seit 2019 führt sie zusammen mit Pascal Kamber zusätzlich die Fachstelle Hilfe bei Mobbing.