Expertin erklärt Solidarität mit Ukraine-Flüchtlingen
«Helfen gibt uns unsere Handlungsfähigkeit zurück»

Die Solidarität für die Ukraine scheint fast grenzenlos. Doch weshalb hilft der Mensch eigentlich? Und weshalb tut er es nicht in allen Fällen?
Publiziert: 14.04.2022 um 16:04 Uhr
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Evelyn Wenzel setzt sich als Coach mit der Persönlichkeitsentwicklung auseinander. Sie sagt: Ein Grund für die enorme Solidarität könne unter anderem in der Pandemie liegen.
Foto: BEAT BASCHUNG
Lea Ernst

Millionen gespendeter Franken und Hilfsgüter, Schweizerinnen, die Flüchtende an der polnischen Grenze abholen oder sie im eigenen Gästezimmer einquartieren. Eine Welle der Hilfsbereitschaft hat die Schweiz seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine überrollt.

Ein Grund für die Solidarität könne unter anderem in der Pandemie liegen. Zu diesem Schluss kommt Organisationsberaterin Evelyn Wenzel, die sich in Zürich als Coach mit der Persönlichkeitsentwicklung auseinandersetzt.

Kontrolle durch Hilfe

«Die vergangenen zwei Jahre waren geprägt von massiven Verunsicherungen», sagt Wenzel. Die Folge: ein Gefühl der Ohnmacht, das unser Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle über die Umstände in die Höhe hat schnellen lassen.

Ob Einkaufen für die Nachbarn während Corona oder das Aufnehmen ukrainischer Flüchtlinge: Zu merken, dass man selber auch Macht habe, das Leid und die Unsicherheit der anderen zu mildern, sei ein kleines bisschen so, als würde man sich selber wieder Wind in die Segel blasen, sagt Wenzel. «Nach der langen Hilflosigkeit gibt uns das Helfen teilweise unsere Handlungsfähigkeit zurück.» Die Hilfsbereitschaft verleihe uns wieder das Gefühl, die Situation kontrollieren und selber gestalten zu können – etwas, was sich gemäss Wenzel jeder Mensch wünsche. «Wir fühlen uns dem Weltgeschehen nicht mehr so ausgeliefert.»

Jeder Mensch, der schon einmal in einer Notsituation war, wisse, wie wertvoll es sei, verständnisvolle Menschen zu treffen, die helfen. «Egal, aus welchem Grund wir in die Not geraten sind: Wird uns einmal geholfen, prägen wir uns das ein – und wollen anderen ebenfalls aus einer misslichen Lage helfen.»

Macht Helfen glücklich?

Helfen hilft uns. Das zeigt auch die Neurologie. Kommt es zu einer guten Tat, aktiviert unser Gehirn das Belohnungssystem. Das Bindungshormon Oxytocin wird ausgeschüttet, das Stresshormon Cortisol wird abgebaut.

«Es ist wie eine Aufwärtsspirale, die in Gang gesetzt wird», erklärt Wenzel. Denn nicht nur die helfende Person wird mit positiven Gefühlen belohnt, sondern auch die, der geholfen wird. Eine Win-win-Situation. «Wir sind von Natur aus soziale Wesen», sagt Wenzel. So würden bereits Kinder das helfende Verhalten ihrer Eltern adaptieren, schwächeren Kindern helfen oder auf eine Wunde pusten, wenn jemand hinfalle.

Biologen gehen davon aus, dass unsere Hilfsbereitschaft ursprünglich dazu dient, der eigenen Familie einen Vorteil zu verschaffen: die sogenannte Verwandtenselektion. Sie besagt, dass die gegenseitige Hilfe das genetische Überleben der Gruppe stärkt und fördert – eigentlich also eine eher egoistische als altruistische Motivation.

Stress und Münzen

Wie stark wir bereit sind, unseren Mitmenschen zu helfen, hängt auch davon ab, unter welchem Zeitdruck wir stehen. Bereits das «Gute-Samariter-Experiment» der Psychologen John Darley und Daniel Batson im Jahr 1973 untersuchte den Einfluss von Stress auf unser Sozialverhalten.

Die beiden Forscher beobachteten Theologie-Studierende, die auf dem Weg zu einem Seminar waren und unter unterschiedlichem Zeitdruck standen. Als Teil des Experiments lag vor der Universität ein hilfloser Mann. Das Studienergebnis: Je gestresster die Studierenden, desto weniger hilfsbereit waren sie.

Auch unsere Stimmung wirkt sich auf die Bereitschaft aus, zu helfen. So wurde bei einem Experiment im Jahr 1972 in einer Telefonkabine eine Münze im Ausgabefach platziert. 84 Prozent der Menschen, die die Münze gefunden hatten, halfen danach dem Mann vor der Kabine, seine verlorenen Papiere wieder einzusammeln. Ohne Münzfund taten dies nur gerade einmal vier Prozent.

In welchen Situationen helfen wir

Eine grosse Rolle, ob wir anderen helfen oder nicht, spiele die Gruppendynamik, sagt Wenzel: Hilft niemand sonst, ist unter anderem auch die eigene Hemmschwelle etwas grösser, einzuschreiten und etwas zu tun. Ein weiterer wichtiger Punkt seien unsere Handlungsoptionen. «Wenn wir einen konkreten Weg vor Augen haben, mit dem wir helfen können, tun wir es auch schneller», sagt Wenzel.

Beobachten wir im Zug eine Belästigung, können wir zum Beispiel andere Fahrgäste mobilisieren oder die betroffene Person ansprechen. Bei der Ukraine seien es zum Beispiel direkte Spendenaufrufe. «Seit dem Ausbruch des Kriegs bieten Menschen weltweit Übersetzungsleistungen an oder nehmen Flüchtlinge auf. Es gibt so viele Hilfsmöglichkeiten – doch wir müssen sie zuerst kennen.»

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