Darum gehts
Kann eine narzisstische Störung wie die von Stefan K. geheilt werden?
Marc Walter: Da ich den spezifischen Fall nicht kenne, kann ich nichts dazu sagen. Bei Persönlichkeitsstörungen kann man aber generell nicht von Heilung sprechen. Narzissmus bewegt sich auf einem narzisstischen Spektrum. Je nachdem, wie viel Empathiefähigkeit vorhanden ist, kann man die Symptome der narzisstischen Persönlichkeitsstörung gut oder nicht so gut behandeln. Ist bei einer leichten Störung noch mehr an Empathie vorhanden, versucht man, den Selbstwert und die Beziehungsfähigkeit der Patienten durch die Therapie zu verbessern und eine Verhaltensänderung zu bewirken.
Was bedeutet das?
Narzissten tun erst mal nichts, was ihnen nichts nützt. Sind sie aber in einer psychischen Krise, können sie in der Therapie mit der Zeit erfahren, wie instabil ihr Selbstwert eigentlich ist und wie sie andere provozieren und verletzen, um sich selbst wieder zu stabilisieren. Wenn im weiteren Verlauf der Therapie noch neue positive Beziehungserfahrungen gemacht werden, ist eine Reduktion des narzisstischen Verhaltens nicht selten.
Ehrgeiz und Selbstbewusstsein sind ja nichts Schlechtes. Wann wird daraus eine Persönlichkeitsstörung?
Grundsätzlich liegt die Grenze für eine Störung dort, wo eine Beeinträchtigung im Alltag vorliegt oder der Leidensdruck beginnt. Beim Narzissmus ist das etwas anders, da in erster Linie das Umfeld leidet, nicht der Narzisst selbst. Er leidet erst dann, wenn er scheitert.
Was zeichnet eine narzisstische Persönlichkeitsstörung aus?
Ein erhöhtes Bild von sich selbst, ein gesteigertes Bedürfnis nach Bewunderung, mangelnde Kritikfähigkeit, mangelndes Interesse an anderen, mangelnde Empathie. Wobei Letzteres wohl das Prägendste ist und es immer eine Kombination aus verschiedenen Faktoren braucht. Nur weil jemand nicht besonders kritikfähig ist, ist er noch lange kein Narzisst.
Können Narzissten lieben?
Ich denke schon, aber ihre Liebe ist an Bedingungen geknüpft. Zum Beispiel dient eine Partnerin oft als Quelle für die Bewunderung, die sie so dringend brauchen. Wenn diese bröckelt, schwindet nicht nur das Interesse an der Beziehung, sondern auch an der Partnerin selbst.
Stefan K. vergöttert sein Kind …
Das beobachten wir allgemein oft. Narzissten sehen Kinder typischerweise als eine Erweiterung von sich selbst, als etwas, das sie geschaffen haben. Kindererziehung ist in diesem Fall, das Kind nach den eigenen Vorstellungen zu formen und ihren eigenen Bedürfnissen entsprechend auszurichten.
Wie entwickelt man eine narzisstische Persönlichkeitsstörung?
Noch gibt es sehr wenige Studien, aber man geht von einer genetischen Veranlagung von etwa 50 Prozent aus. Das ist für eine psychische Störung eher gering, bei Schizophrenie sind es zum Beispiel 80 Prozent. Sehr wahrscheinlich sind Prägungen in der frühen Kindheit, zum Beispiel die Erfahrung, dass Liebe von Leistung abhängt, auch wenn man keinen narzisstischen Elternteil hatte. Fast alle Narzissten haben Kindheits-Traumata erlebt, meist als emotionale Vernachlässigung.
Ist Narzissmus männlich?
Nein. Wenn wir vom sogenannten grandiosen Narzissmus sprechen, um den es bisher hier ging, ist das Verhältnis etwa drei Viertel Männer, ein Viertel Frauen. Das mag auch daran liegen, dass eine gewisse Grossspurigkeit bei Männern in der Gesellschaft nicht nur toleriert, sondern teilweise sogar honoriert wird, bei Frauen eher nicht. Bei Letzteren beobachten wir öfter den vulnerablen Narzissmus, bei dem eine Schutzmauer die Verletzlichkeit verbirgt. Die Ichbezogenheit kann sich bei beiden narzisstischen Typen offen zeigen, als Überheblichkeit oder eben als besondere Verletzlichkeit. Manchmal zeigt sich der Narzissmus auch verdeckt aus einer Opferrolle heraus, mit der man dem Umfeld nicht selten ein schlechtes Gewissen macht.
Täuscht das Gefühl, oder züchtet unsere Gesellschaft Narzissten?
Wir gehen davon aus, dass etwa ein Prozent der Bevölkerung von einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung betroffen ist, davon erhalten die wenigsten eine Diagnose. Aber natürlich ist die Selbstdarstellung auf Social Media eine Spielwiese für alle Narzissten. Und Ehrgeiz und Selbstbewusstsein bringen einen auch im Geschäftsleben weiter – bis zu einem gewissen Punkt.
Ist eine Beziehung mit einem Narzissten möglich?
Je weniger Empathie, desto schwieriger. Das Problem ist, dass Empathielosigkeit recht schwer zu erkennen ist, da sich Narzissten sehr gut in andere hineinversetzen können – allerdings nicht emotional, sondern kognitiv mit ihrem Intellekt. Sie merken genau, was jemand hören will und wo seine Schwachstellen sind. Das führt dann zu einer klassischen toxischen Beziehung.
Erklären Sie.
Anfangs ist man genau das, was das Gegenüber sich wünscht – der perfekte Partner. Danach wird gezielt das Selbstwertgefühl des Partners angegriffen, es folgt ein Spiel aus überschwänglichem Lob, Erniedrigung, Manipulation, emotionaler Abhängigkeit. Partner oder Kinder von Narzissten kämpfen oft mit einem total zerstörten Selbstwertgefühl, Depressionen oder anderen psychischen Beschwerden.
Wie kommt man da heraus?
Das ist extrem schwierig. Ich würde raten, sich Hilfe zu holen, unter Umständen ohne dies dem narzisstischen Partner gleich zu erzählen – damit es nicht gegen einen verwendet werden kann. Diese Fälle kommen in der Praxis leider häufig vor.
Wie hoch ist die Chance auf ein Trauma bei Kindern eines narzisstischen Elternteils?
Leider sehr hoch. Auch wenn der andere, nicht narzisstische Elternteil oft einen Teil der Verletzungen und Manipulationen auffangen kann.
Wie bemerke ich, dass ich es mit einem Narzissten zu tun habe?
Das ist nicht ganz einfach, zumal der wichtigste Punkt, die Empathielosigkeit, wie gesagt am Anfang kaum erkennbar ist. Ein Indikator kann zum Beispiel sein, wenn jemand sehr schnell gekränkt oder beleidigt ist, auch bei Dingen, wo dies keinen Sinn macht, zum Beispiel weil man keine Sonderbehandlung erhält – selbst wenn einem keine zusteht. Auch wenn jemand andere immer als Konkurrenz sieht, ständig schlecht über andere redet, sie entwertet und ihnen keinen Erfolg gönnt, könnte dies auf Narzissmus hinweisen. Und: Wenn man in einer Beziehung des Narzissmus beschuldigt wird und sich fragt, ob der Partner recht hat, könnte es gut sein, dass eher dieser selbst der Narzisst ist. Wer sich nämlich fragt, ob er narzisstisch sein könnte, ist es mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht.