Es klingt bestechend einfach: Mit Nackenmassagen Stress reduzieren, mit kurzen Atemübungen Körper und Geist beruhigen, quasi auf Knopfdruck. In den sozialen Netzwerken – vor allem auf TikTok und Instagram – werden solche Tipps hunderttausendfach geteilt und als Allheilmittel gegen Burnout, Angstzustände und Depression angepriesen. Was ist dran an diesem Hype?
Dass Nackenmassagen und Atemübungen beruhigend wirken, ist laut Gregor Hasler (55), Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Freiburg, unbestritten. «Dafür verantwortlich ist der Vagusnerv», sagt er. Dabei handelt es sich um unseren längsten Nerv im menschlichen Körper. Er reicht vom Darm, der Leber, dem Magen und den Lungen bis in den Kopf und ins Gehirn.
Den Entspannungsnerv stimulieren
Der Vagusnerv (kurz: Vagus) ist Teil des parasympathischen Nervensystems und für Stressreduktion und Entspannung zuständig. «Er sorgt dafür, dass sich unser Puls verlangsamt, unser Blutdruck sinkt und unsere Atmung ruhiger wird», sagt Hasler.
Um die Wirkung des Vagusnervs zu verstärken, könne man ihn zusätzlich stimulieren, sagt der Experte. «Der Nerv führt über den Nacken in unseren Kopf. Mit einer Nackenmassage wird er stimuliert.» Verästelungen des Nervs führen zudem durch die Atemwege und Stimmbänder. Deswegen könne der Vagus auch durch tiefes Ein- und Ausatmen oder durch ein leichtes Summen aktiviert werden. Im Gesicht lässt sich der Nerv mit Hilfe eines Gesichtsbades stimulieren. Hasler: «Bei jeder Stimulation teilt der Nerv dem Gehirn mit: Alles ist gut, kein Grund zur Sorge.»
Hype ist wissenschaftlich begründet
Der Vorteil von solchen Vagus-Stimulationen liege auf der Hand, sagt Hasler. «Der Effekt ist unmittelbar spürbar.» Hormone, körpereigene Botenstoffe, haben viel länger, bis sie ihre Wirkung entfalten. Hasler: «Der Vagus ist eine Art Datenautobahn in unserem Körper.»
Die Entspannungstipps, wie sie auf den Sozialen Medien geteilt werden, haben laut Hasler eine wissenschaftliche Grundlage. Selbst im klinischen Umfeld fänden Vagus-Therapien mittlerweile Anklang. Zum Beispiel bei Epilepsie-Patienten: «Eine Stimulation des Nervs kann ihre Symptome lindern und Anfälle abschwächen.»
Gregor Hasler (55) ist Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Freiburg. Der gebürtige Basler hat über Jahre zu Stress und Stressmanagement geforscht und mehrere Bücher zum Thema verfasst. In seinem 2020 erschienen Buch «Die Darm-Hirn-Connection» geht er auf den Einfluss des Vagusnervs auf unser psychisches und physisches Wohlbefinden sowie auf unsere Verdauung ein.
Gregor Hasler (55) ist Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Freiburg. Der gebürtige Basler hat über Jahre zu Stress und Stressmanagement geforscht und mehrere Bücher zum Thema verfasst. In seinem 2020 erschienen Buch «Die Darm-Hirn-Connection» geht er auf den Einfluss des Vagusnervs auf unser psychisches und physisches Wohlbefinden sowie auf unsere Verdauung ein.
Kein Allheilmittel
Da wir in unserem Alltag ständig Stressoren ausgesetzt seien – Hektik im Strassenverkehr, Lärm im Grossraumbüro oder Benachrichtigungen auf dem Handy – werde der Vagusnerv oft nicht aktiviert, sagt Hasler. Bei Stress werden Stressnerven aktiviert. Sie bereiten unseren Körper auf mögliche Gefahren vor. «Entspannung und Beruhigung wären da nur hinderlich.» Stimulationen auf den Vagusnerv in Form von Massagen oder Atemübungen seien aber keine Garantie, jedem Stress zu entkommen, sagt Hasler. «Vor allem chronischer Alltagsstress lässt sich nicht dadurch nicht beseitigen.»