Die Bindungstheorie erklärt es
Warum ist die Liebe so kompliziert?

Liebe und Beziehungen sind kompliziert: Manche Menschen klammern und sind unsicher, andere haben Mühe mit Nähe und brauchen viel Freiheit. Eine bekannte Theorie aus der Psychologie besagt: Das liegt an unserem Bindungssystem, das stark von den Eltern geprägt wird.
Publiziert: 26.04.2023 um 17:20 Uhr
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Aktualisiert: 26.04.2023 um 17:15 Uhr
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Liebe ist nicht bloss eine Frage von Glück oder Pech.
Foto: Getty Images/Westend61
Karin A. Wenger

Manche finden den Partner fürs Leben, bei anderen scheint es nie zu klappen. Ist Liebe schlicht eine Frage von Glück oder Pech? Nein, zeigt eine breit abgestützte Theorie aus der Psychologie: Es kann an einem unsicheren Bindungsstil liegen.

Die sogenannte Bindungstheorie (engl. «attachment theory») liegt im Trend in den sozialen Medien. Auf Tiktok hat der Hashtag #AttachmentStyle schon über 300 Millionen Aufrufe. Eines der bekanntesten Bücher zur Bindungstheorie bei Erwachsenen, das die Psychologen Amir Levine und Rachel Heller 2010 unter dem Titel «Attached» veröffentlichten, verzeichnet seit mehreren Jahren steigende Verkaufszahlen.

Die Grundlage der Bindungstheorie erklärt anhand von vier Typen, wie Menschen Bindungen zu Partnern aufbauen.

  • Ängstlich: Menschen mit einem ängstlichen Bindungsstil haben ein grosses Bedürfnis nach Intimität und Nähe, gleichzeitig sind sie schnell verunsichert – sowohl in einer Beziehung als auch beim Dating. Sobald sie sich sorgen, dass mit der Beziehung etwas nicht stimme, wird ihr Bindungssystem aktiviert. Ab diesem Zeitpunkt ist es für sie schwierig, sich selbst zu beruhigen oder an etwas anderes zu denken. Manche reagieren abweisend oder wütend, damit sich der Partner um sie bemüht. Das Bindungssystem beruhigt sich erst, wenn der Partner ihnen klar versichert, dass die Beziehung nicht gefährdet ist.

  • Vermeidend: Menschen, die einen vermeidenden Bindungsstil haben, fühlen sich unwohl, sobald eine Beziehung zu nah wird. Sie legen viel Wert auf ihre Unabhängigkeit und Freiheiten. Zugrunde liegt bei vielen eigentlich die Angst, verlassen zu werden. Je nachdem, wie ausgeprägt der Bindungsstil ist, gehen sie längere Beziehungen ein, verfolgen aber – unbewusst – Strategien, um das Bindungssystem zu deaktivieren und so Distanz zu halten: Details am Partner bemängeln, einen Ex- oder Wunschpartner idealisieren, sich nicht melden oder Intimität vermeiden.

  • Sicher: Menschen mit einem sicheren Bindungsstil fühlen sich in engen Beziehungen wohl, können aber auch gut alleine sein. Sie haben Vertrauen in ihre Bindungen und machen sich um diese nur wenige Sorgen, ihr Verhalten ist ausgeglichen und verlässlich. Sicher gebundenen Menschen fällt es leicht, ihre Bedürfnisse zu äussern und auf die Bedürfnisse des Partners zu reagieren. Beim Dating gehen sie davon aus, dass das Gegenüber grundsätzlich auch an einer Bindung interessiert ist. Während eines Streits fühlen sie sich von Kritik kaum bedroht, sondern sind bereit, über ihre Position nachzudenken.

  • Desorganisiert: Dieser Bindungsstil ist geprägt von intensiven und chaotischen Mustern. Menschen mit einem desorganisierten Bindungsstil wollen extreme Nähe, stossen andere aber gleichzeitig weg. Oft sind es Personen, die als Kind Gewalt erlebten, stark vernachlässigt, oder missbraucht wurden.

In «Attached» schreiben Levine und Heller, dass etwas mehr als die Hälfte der Menschen einen sicheren Bindungsstil haben, jeder fünfte ist ängstlich und knapp jeder vierte vermeidend. Drei bis fünf Prozent zeigen sich desorganisiert.

Erfahrungen in der Kindheit

Ob wir einen sicheren oder unsicheren Bindungsstil entwickeln, hat viel mit unserer Kindheit zu tun. Pionier der Bindungstheorie ist der Kinderpsychiater John Bowlby, der in der Mitte des 20. Jahrhunderts die Bindungen zwischen Kleinkindern und ihren Eltern erforschte. Grundsätzlich ist den Menschen das Bedürfnis nach nahen Beziehungen angeboren. Doch die Art, wie wir lernen, Beziehungen aufzubauen, ist geprägt vom engsten Umfeld.

«Entscheidend ist, ob ein Kleinkind eine stabile und verlässliche Beziehung zur Bezugsperson hat, und ob diese auf seine Bedürfnisse sensibel reagiert», sagt der Psychologieprofessor Guy Bodenmann (61), der seit 25 Jahren zu Paaren und Familien forscht. Wenn ein Kind zum Beispiel länger von einem Elternteil getrennt werde oder die Bindung zu wenig konstant sei, wirke sich dies besonders in den ersten drei Lebensjahren einschneidend aus. Bezugspersonen, die zu wenig auf kindliche Bedürfnisse eingehen, zum Beispiel weil sie gestresst oder depressiv sind, vermitteln dem Kind: Du kannst dich nicht darauf verlassen, dass jemand für dich da ist.

«Sicher gebundene Kinder können nicht nur ihre Emotionen besser selbst regulieren, sondern sind auch mutiger und autonomer», sagt Bodenmann. Sind also alleine unsere Eltern schuld, wenn wir als Erwachsene unsichere Beziehungen führen? «Nein», sagt Bodenmann, auch Schicksalsschläge spielten eine Rolle. Zudem seien Lehrpersonen, enge Freunde und einschneidende Erfahrungen in Partnerschaften Faktoren, die den Bindungsstil beeinflussten.

Das Nähe-Distanz-Problem

Studien zeigen, dass bei Paaren häufig entweder beide Personen ein sicheres Bindungsmuster haben oder beide ein unsicheres. Sehr selten kommen die Kombinationen von zwei ängstlichen oder zwei vermeidenden Personen vor. Typisch bei unsicheren Konstellationen ist die Kombination ängstlich plus vermeidend. Besonders in der Kennenlernphase kann das für beide anstrengend sein: Eine Person sucht umso mehr die Nähe, je mehr die andere ausweicht. Doch genau diese Dynamik, die das Bindungssystem der ängstlichen Person aktiviert, kann dazu beitragen, dass sich die beiden interessant finden.

Für Menschen mit unsicheren Bindungsstilen ist es sinnvoll, sich mit dem Thema zu beschäftigen: Ein unsicherer Bindungsstil stelle keine psychische Störung dar, doch erhöhe er das Risiko für solche, sagt Guy Bodenmann. Zudem zeigt die Forschung, dass die Probleme oft an die nächste Generation weitergegeben werden. Menschen mit einem unsicheren Bindungsstil haben, wenn sie Eltern werden, überdurchschnittlich häufig wieder unsicher gebundene Kinder. Die Tiktok-Videos, die zurzeit zum Thema #AttachmentStyle im Trend liegen, lösen diese Probleme kaum. Doch sie könnten einen ersten Schritt sein, damit junge Menschen mehr über ihre Psyche lernen – und dadurch vielleicht zu glücklichen Kindern der nächsten Generation beitragen.

Nachgefragt bei Paarforscher Guy Bodenmann

Der Zürcher Psychologieprofessor Guy Bodenmann (60) ist einer der bekanntesten Paarforscher. SonntagsBlick fragte ihn nach Ratschlägen für Menschen mit einem unsicheren Bindungsstil.

SonntagsBlick: Leiden Menschen, die als Kind einen unsicheren Bindungsstil entwickeln, ein Leben lang darunter?
Guy Bodenmann: Nicht zwingend, der Bindungsstil ist zwar stabil, kann sich aber ändern. Wenn eine Person mit einem ängstlichen Stil über Jahre in einer sicheren Beziehung lebt, können die neuen Erfahrungen die alten überschreiben.

Wie findet jemand mit einem ängstlichen Bindungsstil einen sicheren Partner?
Ich rate, beim Kennenlernen vorsichtig zu sein und sich nicht zu schnell einzulassen. Lieber etwas abwarten und sich fragen: Finde ich bei dieser Person, was ich brauche? Wichtig ist ein Partner, auf den Verlass ist.

Was raten Sie Personen mit einem vermeidenden Stil?
Bei ihnen ist es zentral, dass sie sich überwinden und mutig sind. Sie sollten sich bewusst sein, dass es sich lohnt, eine Beziehung zu einem «guten» Partner einzugehen. Wenn jemand merkt – und das gilt für alle unsicher gebundenen Personen –, dass es belastend ist, immer wieder am gleichen Punkt zu stolpern, kann professionelle Hilfe sinnvoll sein.

Und was sollten Paare der Konstellation ängstlich-vermeidend beachten?
Wichtig ist, darüber zu reden, was man braucht, um sich sicher zu fühlen. Man sollte sich trauen, bereits kleine Situationen anzusprechen, die Unsicherheit auslösen. Ansonsten werden die Probleme immer grösser. Die Forschung zeigt übrigens, dass Paare mit einer ängstlichen Frau und einem vermeidenden Mann relativ stabil sind. Sie ist vielleicht unsicher und eifersüchtig, doch er sucht kaum nach was anderem. Und da unsicher Gebundene oft einen niedrigen Selbstwert haben, trennen sie sich seltener, weil sie glauben, niemand Neues zu finden.

Nathalie Taiana

Der Zürcher Psychologieprofessor Guy Bodenmann (60) ist einer der bekanntesten Paarforscher. SonntagsBlick fragte ihn nach Ratschlägen für Menschen mit einem unsicheren Bindungsstil.

SonntagsBlick: Leiden Menschen, die als Kind einen unsicheren Bindungsstil entwickeln, ein Leben lang darunter?
Guy Bodenmann: Nicht zwingend, der Bindungsstil ist zwar stabil, kann sich aber ändern. Wenn eine Person mit einem ängstlichen Stil über Jahre in einer sicheren Beziehung lebt, können die neuen Erfahrungen die alten überschreiben.

Wie findet jemand mit einem ängstlichen Bindungsstil einen sicheren Partner?
Ich rate, beim Kennenlernen vorsichtig zu sein und sich nicht zu schnell einzulassen. Lieber etwas abwarten und sich fragen: Finde ich bei dieser Person, was ich brauche? Wichtig ist ein Partner, auf den Verlass ist.

Was raten Sie Personen mit einem vermeidenden Stil?
Bei ihnen ist es zentral, dass sie sich überwinden und mutig sind. Sie sollten sich bewusst sein, dass es sich lohnt, eine Beziehung zu einem «guten» Partner einzugehen. Wenn jemand merkt – und das gilt für alle unsicher gebundenen Personen –, dass es belastend ist, immer wieder am gleichen Punkt zu stolpern, kann professionelle Hilfe sinnvoll sein.

Und was sollten Paare der Konstellation ängstlich-vermeidend beachten?
Wichtig ist, darüber zu reden, was man braucht, um sich sicher zu fühlen. Man sollte sich trauen, bereits kleine Situationen anzusprechen, die Unsicherheit auslösen. Ansonsten werden die Probleme immer grösser. Die Forschung zeigt übrigens, dass Paare mit einer ängstlichen Frau und einem vermeidenden Mann relativ stabil sind. Sie ist vielleicht unsicher und eifersüchtig, doch er sucht kaum nach was anderem. Und da unsicher Gebundene oft einen niedrigen Selbstwert haben, trennen sie sich seltener, weil sie glauben, niemand Neues zu finden.

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