BLICK: Seit März sorgt die Corona-Pandemie bei Menschen für Verunsicherung. Wurde in dieser Zeit in der Schweiz vermehrt fachliche Unterstützung von Psychiatern oder Psychologen gesucht?
Erich Seifritz: Interessanterweise hat die Nachfrage nach psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlungen während der Pandemie abgenommen. Das haben wir nicht erwartet. Es steht im Gegensatz dazu, dass gemäss der Swiss Corona Stress Study der Universität Basel der subjektiv empfundene Stress in der Bevölkerung zugenommen zu haben scheint. Dafür haben wir Erklärungen: Während des Lockdowns haben sich viele Patienten nicht mehr aus dem Haus getraut. Es wurde explizit davon abgeraten, auf die Strasse zu gehen oder den öffentlichen Verkehr zu benutzen. Viele haben es aber auch genossen, dass der Lebensrhythmus ruhiger wurde, dass sie wegen Homeoffice mehr Zeit haben und viele stressige Arbeitskontakte vermeiden konnten.
Welche Probleme ergeben sich bei Konsultationen per Video oder Telefon?
Ein grosses Problem war, und ist aktuell wieder, dass die Konsultationen bei Psychiatern und Psychologen per Video oder Telefon, sogenannte fernmündliche Behandlungen, nicht in genügender zeitlicher Dauer erlaubt sind. Hier könnte das Bundesamt für Gesundheit einen wichtigen Beitrag leisten, indem es diese Behandlungsform wieder wie während des Lockdowns zulässt. Videobasierte Therapien sind nämlich ähnlich wirksam wie persönliche Therapien, wie grosse Metastudien zeigen. Damit könnte man Menschen in psychischen Krisen auch während eines Lockdowns oder bei eingeschränkter Bewegungsfreiheit gut zu behandeln. Hier sehe ich dringenden Handlungsbedarf!
SVP-Bundesrat Ueli Maurer sprach bei einer Vollversammlung der Delegierten davon, dass die Auswirkungen der Krise auf die Psyche nicht ausser Acht gelassen werden darf. Wurde dieser Aspekt bisher vernachlässigt?
Einige Menschen haben grosses persönliches Leid erlebt, beispielsweise durch Verlust von Angehörigen. Aber auch durch Vereinsamung, Ausgrenzung und Verunsicherung. Hier denke ich insbesondere an diejenigen, die wirtschaftlich unter Druck und dadurch auch in ihrer Existenz bedroht sind. Dennoch denke ich, dass wir als Gesellschaft in der Schweiz die erste Welle recht gut gemeistert haben, auch durch grosszügige wirtschaftliche Unterstützung. Aktuell sieht es aber anders aus. Grösste Sorge bereitet mir, dass die Wirtschaft jetzt mit der zweiten Welle nachhaltig unter Druck gerät. Wir wissen aus vielen Studien, dass Arbeitsunsicherheit und Arbeitslosigkeit, gepaart mit dem Verlust einer hoffnungsvollen Perspektive, ein starker Risikofaktor für psychische Erkrankungen und letztlich für Suizid ist.
Was waren oder sind die Hauptsorgen von Hilfesuchenden?
Faktoren wie Jobverlust, fehlende soziale Kontakte, Beziehungsprobleme oder Angst vor einer Erkrankung spielen in unterschiedlichem Masse eine Rolle. Einige Menschen sind während der Corona-Pandemie zum ersten Mal in eine psychische Krise geraten. Aber auch Patienten und Patientinnen, die vorher schon unter einer psychischen Erkrankung gelitten haben und stabil waren, sind erneut akut krank geworden. Zum Teil haben ihnen auch die im Internet verbreiteten Verschwörungstheorien stark zugesetzt.
Auch eine Zunahme von Suiziden wurde befürchtet. Können Sie dazu Angaben machen?
Wir sind derzeit daran, diese Zahlen auszuwerten. Weil bei der Suizidalität von Jahr zu Jahr erhebliche Schwankungen bestehen und weil eine allfällige Veränderung vermutlich klein ist, ist das zum jetzigen Zeitpunkt nicht geklärt. Ich hoffe, bald verlässliche Daten zu haben und mehr dazu sagen zu können. Interessant ist aber auch, dass während der ersten Welle eine grosse Solidarität innerhalb der Bevölkerung zu verzeichnen war. Das hat vielen Menschen geholfen und ihnen ein Gefühl von Zusammenhalt und Geborgenheit gegeben.
Erwarten Sie nun mit den neuen verschärften Massnahmen eine Zunahme von Hilfesuchenden?
Ich erwarte in Abhängigkeit vom weiteren Verlauf eine Erhöhung von Stress durch wirtschaftliche, coronabedingte und jahreszeitliche Einflussfaktoren. Zudem ist es möglich, dass es bei einem erneuten Lockdown zu einer Zunahme von häuslicher Gewalt kommen kann. Auch kann es zu erheblichen Stressrisiken bei Kindern und Jugendlichen kommen, falls sie länger nicht mehr zur Schule gehen können. Auch Jugendliche in der Lehre stehen vor grosser Unsicherheit bezüglich ihrer beruflichen Zukunft. Eine weitere besonders gefährdete Bevölkerungsgruppe sind die älteren Menschen und solche mit körperlichen Erkrankungen und Gesundheitsrisiken.
Häufig stehen auch die Medien in der Kritik und es wird von Panikmache geredet. Wie beurteilen Sie die Berichterstattung im Zusammenhang mit Corona?
Die Situation ist unübersichtlich. Die Medien kann man dafür nicht verantwortlich machen. Es wäre jetzt meines Erachtens wichtig, eine klare, transparente und konsistente Kommunikation sicherzustellen.
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Auf Social Media kommen oft Aggressionen über verordneten Massnahmen zum Ausdruck. Wie lässt sich eine Eskalation verhindern?
Ja, das ist leider so, dass die Corona-Pandemie auch instrumentalisiert wird. Dass die Situation kompliziert ist, und dass es in der aktuellen Unsicherheit durchaus unterschiedliche Einschätzungen und Meinungen zur Situation und deren Lösung geben kann, fördert natürlich auch extreme bis extremistische Positionen. Ziel muss daher eine glaubwürdige und transparente offizielle Kommunikation sein.
Die letzten Monate waren für alle eine Herausforderung und das dürfte gemäss verschiedenen Experten noch einige Zeit so bleiben. Was kann man selber tun, damit die psychische Gesundheit möglichst nicht leidet?
Eine möglichst realistische Einschätzung der Gefahrensituation und eine nachvollziehbare nationale Strategie und Kommunikation schafft Sicherheit in der Unsicherheit. Aber klar, niemand weiss genau, was die Zukunft bringen wird. Werden wir in absehbarer Zeit eine Impfung haben? Werden wir durch Verhaltensanpassung die Pandemie in den Griff kriegen? Wie wird sich die Wirtschaft entwickeln? Wie sicher ist der Job? Das sind alles offene Fragen, die Ängste auslösen. Diese Ängste kann man am besten kontrollieren, wenn man sich bekannte Fakten vor Augen führt. Es hilft auch, zu überlegen, was man wirklich weiss und auch, was man nicht weiss. Sinnvollerweise informiert man sich aus seriösen Medien. Über die eigenen Ängste zu sprechen – mit Familie, engen Freunden oder auch am Arbeitsplatz – kann den psychischen Druck verringern. Spaziergänge an der frischen Luft und Sport sind auch empfehlenswert.
Bei welchen Symptomen sollte man fachliche Hilfe in Anspruch nehmen?
Wenn Stresssymptome über mehrere Tage anhalten, wie Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen, Stimmungsänderungen wie Trauer, Ängste, Aggressivität, sozialer Rückzug, Appetitveränderungen oder etwa Suizidgedanken und -handlungen, dann sind das triftige Gründe, professionelle Hilfe aufzusuchen. Ein weiteres Zeichen, dass Hilfe benötigt wird, ist die Entwicklung von Suchtverhalten wie übermässiges Glückspiel, Gamen oder Alkohol. Dann sind Hausärzte eine gute erste Anlaufstelle. Wenn einige klärende Gespräche nicht weiterhelfen, dann ist eine weiterführende Behandlung bei einer Fachperson angezeigt, weil der Psychiater, der immer auch Psychotherapeut und Arzt ist, eine umfassende medizinisch psychiatrische Behandlung anbieten kann. Für Gespräche und wenn nötig auch Medikamente, ist er der kompetenteste Ansprechpartner.
Abschliessend die Frage: Wie geht es Ihnen, und wie tragen Sie Sorge, physisch und psychisch gesund durch diese anspruchsvolle Zeit zu kommen?
Danke für die Nachfrage. Ich muss zugeben, diese latente Gefahr der Ansteckung stellt auch für mich eine gewisse Unsicherheit und Belastung dar. Es hilft mir aber auch, dass ich als Klinikleiter und insbesondere als Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie eine gewisse Rolle in der Bewältigung der Krise spielen darf. So versuche ich mich an den Aufgaben und weniger an den Ängsten zu orientieren. Die Arbeit hält mich geistig fit, für die körperliche Fitness treibe ich regelmässig Sport, schlafe genug und versuche, mich gesund zu ernähren. Auch die Familie und der Freundeskreis sind wichtige gesundheitserhaltende Faktoren. Wenn auch die persönlichen Kontakte reduziert sind, Gespräche mit Freunden sind telefonisch möglich.
Professor Erich Seifritz (59) ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Direktor und Chefarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Ausserdem ist er Präsident der Schweizerischen Vereinigung psychiatrischer Chefärzte und Chefärztinnen und der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression sowie Vizepräsident von Swiss Mental Health Care.
Professor Erich Seifritz (59) ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Direktor und Chefarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Ausserdem ist er Präsident der Schweizerischen Vereinigung psychiatrischer Chefärzte und Chefärztinnen und der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression sowie Vizepräsident von Swiss Mental Health Care.
Für Menschen in persönlichen Krisen gibt es rund um die Uhr Anlaufstellen. Das sind die wichtigsten: Beratungstelefon der Dargebotenen Hand: Nummer 143 Beratungstelefon Pro Juventute: Nummer 147 Weitere Infos erhalten Sie bei: www.reden-kann-retten.ch Adressen für Menschen, die einen Menschen verloren haben: www.verein-refugium.ch Perspektiven nach Verlust eines Elternteils: www.nebelmeer.net
Für Menschen in persönlichen Krisen gibt es rund um die Uhr Anlaufstellen. Das sind die wichtigsten: Beratungstelefon der Dargebotenen Hand: Nummer 143 Beratungstelefon Pro Juventute: Nummer 147 Weitere Infos erhalten Sie bei: www.reden-kann-retten.ch Adressen für Menschen, die einen Menschen verloren haben: www.verein-refugium.ch Perspektiven nach Verlust eines Elternteils: www.nebelmeer.net