Über die menschliche Vernunft
Was sehen Sie hier?

Die Vernunft schenkt uns nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse, sie kann uns auch an den Rand des Wahnsinns bringen, schreibt Mirko Bischofberger.
Publiziert: 04.10.2021 um 14:02 Uhr
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Erkennen Sie ein Muster? Oder nehmen Sie sogar Zusammenhänge wahr? Was das mit Vernunft zu tun hat, erklärt unser Autor im Text.
Mirko Bischofberger

«Sei vernünftig, Mirko!». Wie oft habe ich diesen Satz schon gehört. «Verlasse deine Freundin nicht, auch wenn du unglücklich bist». Oder: «Kündige deinen Job nicht, bloss weil du einen Inhalt im Leben suchst». Doch ich frage mich, was bedeutet es denn, vernünftig zu sein? Missbrauchen wir das Wort Vernunft nicht ein bisschen?

Werfen wir einen Blick in die Geschichte, um dies besser zu verstehen. Waren die wichtigsten Köpfe unserer Zeit vernünftig? War zum Beispiel Charles Darwin vernünftig, als er die Schädel unserer Vorfahren und von Affen betrachtete und eine Verbindung zwischen ihnen sah? Damit entstand die Idee der Evolution, welche den Bedarf eines Gottes als Schöpfer überflüssig machte. Oder was ist mit Isaac Newton, als er sich fragte, ob es noch etwas anderes gäbe, das von der Masse der Erde angezogen würde, jenseits des Apfels, der ihm auf den Kopf fiel? Sein Gedanke legte den Grundstein der Anziehungskraft von Planeten, Massen und dessen Berechenbarkeit, was letztlich die industrielle Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts ermöglichte. Denn jede Dampflokomotive und industrielle Maschine in Fabriken basierte darauf.

Vernunft als Geistesinstrument

Waren diese grossen Wissenschaftler also vernünftig, als sie ihre Entdeckungen machten? Ja, das waren sie. Sie waren sogar zu vernünftig. Denn sie benutzten die Vernunft als radikales Instrument des Geistes, um ihre Erkenntnisse zu sehen, zu beweisen und zu verteidigen – auch wenn das teilweise gegen das damalige Allgemeinwissen ging. Durch den Gebrauch der Vernunft sahen sie also weiter, als viele vor ihnen, und lösten dadurch wissenschaftliche Revolutionen aus.

Und wie wurden sie von der Gesellschaft angesehen? Wurden sie als vernünftige Visionäre wahrgenommen? Nicht wirklich. Sie wurden oft als Verrückte abgestempelt und teilweise sogar von den Intellektuellen ihrer Zeit stark kritisiert (erst später wurden sie zu den Popstars, die wir heute kennen). Einige Gegner kritisierten sie, weil die revolutionären Ideen nicht in die Zeit passten, wie zum Beispiel eben bei Darwin, der sich gegen die Idee der Erschaffung des Menschen durch einen Gott stellte. Und viele Menschen waren einfach nur kritisch, weil sie nicht in der Lage waren, das zu sehen, was die Visionäre sahen.

Heute belächeln wir das und denken, wie dumm die Menschen damals doch waren. Doch das ist zu einfach. Denn die Grenze zwischen kreativer Vernunft und Wahnsinn ist dünn, und so fällt es uns schwer, Visionäre von Wahnsinnigen zu unterscheiden.

Zusammenhänge sehen

Die Fähigkeit, Muster zu sehen und Zusammenhänge zu erkennen, ist tief in unserem Gehirn verankert und hat sich entwickelt, damit wir die Umwelt einfacher überleben. Ein Beispiel: Wir erkennen alle, dass die Sonne am Abend untergeht, sehen aber auch, dass diese am nächsten Morgen wieder erscheint. Diese Erfahrung erlaubt es uns, ein Muster von Tag- und Nachtzyklen zu erkennen und zu wissen, dass die Nacht nicht ewig währt (auch im poetischen Sinne nicht). Das mag nun trivial klingen, aber es muss von jedem Kindeshirn neu erlernt werden.

Wir alle erkennen also offenbar Muster, doch grosse Visionäre wie Darwin oder Newton gehen einen Schritt weiter. Sie sehen auch dort Zusammenhänge, wo wir sie (noch) nicht sehen, selbst wenn sie genauso wie Tag- und Nachtzyklen vor unseren Augen sind. Und durch dieses Sehen schaffen sie dann neues Wissen. Da wir Normalsterbliche diese neuen Muster aber nicht sehen, können diese Erkenntnisse manchmal schwer zu akzeptieren sein. Mit anderen Worten, wir hätten den Darwin wohl damals alle als Spinner bezeichnet!

Ein sehr anschauliches Beispiel aus der Geschichte ist die Entdeckung von Alfred Wegener im frühen 20. Jahrhundert. Er entdeckte nämlich, dass die Linie der Ostküste Südamerikas perfekt komplementär zur Linie der Westküste Afrikas passte, wie zwei Teile eines Puzzles. Diese beiden Kontinente sind aber sehr weit voneinander entfernt. Wegener erkannte das trotzdem und postulierte dann, dass die beiden Kontinente einmal zusammen gewesen sein mussten, und wohl erst später zerbrachen und auseinanderdrifteten.

In jenen Zeiten wurde Wegener als ein Verrückter angesehen, da er mit seiner Vernunft einen Schritt zu weit ging. Doch wie bei allen grossen Entdeckungen häuften sich die Beweise über die Zeit und jeder vernünftige Mensch musste es irgendwann anerkennen, seine Meinung ändern und die neue Erkenntnis zur Entstehung der Kontinente akzeptieren. Heute wissen wir alle, dass Wegener recht hatte und jedes Kind lernt in der Schule, dass die Kontinente immer noch am Driften sind.

Man kann heute darüber lachen, doch in den vergangenen Jahren gab es auch Fälle, in denen sich Menschen trotz klaren Mustern nicht überzeugen lassen wollten. Ein Beispiel waren diejenigen, die in den 1990er-Jahren glaubten, dass Aids nicht durch ein Virus verursacht würde (was leider unzählige Menschenleben kostete). Und auch dieser Tage gibt es übrigens noch Menschen, die leugnen, dass Covid-19 eine neue Krankheit ist und von einem Virus stammt (naja, es gibt auch Leute, die noch behaupten, die Erde sei flach).

Der menschliche Verstand kann aber auch einen Schritt zu weit gehen und Zusammenhänge sehen, die es schlicht nicht gibt. Ein Beispiel dafür ist der falsche Zusammenhang zwischen Impfungen und Autismus, den einige zu sehen scheinen. Ein anderer falscher Zusammenhang ist derjenige, dass Störche dafür verantwortlich seien, Babys zu neuen Eltern zu bringen. Auch wenn heute anekdotische Folklore, so hat sich die Legende doch lange gehalten und gewisse Menschen sahen darin früher ein Muster – trotz absolut mangelnder Evidenz! Man sieht, die Grenze zwischen Vernunft und Wahnsinn ist dünn.

Vernunft ist mächtig

Die Vernunft kann also auf viele Arten gebraucht werden, vom Erkennen einfacher Zusammenhänge, bis hin zu bahnbrechenden Visionen oder gar purem Wahn. Und man kann die Vernunft auch missbrauchen, wie eingangs erwähnt. Das ist dann der Fall, wenn Menschen uns sagen, man solle vernünftig sein, während sie uns in Wirklichkeit das Gegenteil sagen wollen (nämlich unvernünftig zu sein). Setzt man Vernunft nämlich so ein, wie sie in unserem Gehirn durch die Evolution programmiert wurde, so ist sie ein extrem mächtiges und radikales Instrument, dass es uns erlaubt, in der Welt Zusammenhänge zu sehen, die Welt zu interpretieren und dadurch sogar eine ein bisschen unsere Zukunft vorherzusagen.

Das gilt übrigens auch für den Menschen als Kollektiv. Denn wenn der Mensch heute wirklich radikal vernünftig wäre, so würde er erkennen, wie unvernünftig wir mit unserem Planeten umgehen. Und wir würden sofort reagieren. Doch leider fühlt es sich manchmal so an, als ob der Mensch den Klimawandel für eine weitere, verrückte Hypothese von wilden Visionären halte, so wie damals, als man über Darwin und Newton lachte. Leider ist der Klimawandel aber sehr real und wie bei allen grossen Wahrheiten, so wird er uns jeden Tag etwas mehr überzeugen, bis es eine allgemeine Wahrheit sein wird. Wir können nur hoffen, dass es dann nicht zu spät sein wird.

Fragen stellen, die zuvor niemand gestellt hat

Die Geschichte der Wissenschaft ist also auch eine Geschichte der scheinbaren Unvernunft, oder eben einer radikalen Vernunft. Einer Vernunft, die sich traut, Fragen zu stellen, die vorher niemand gestellt hatte und Dinge zu sehen, die von Gesellschaft und Politik nicht immer akzeptiert werden. Denn Wissenschaft geht per Definition an Grenzen, an die Grenzen des Wissens und manchmal sogar an die Grenzen des Wahnsinns. Und so kann das Betreiben von Wissenschaft manchmal auch ein echter Kampf gegen allgemeine Vorurteile sein, so wie es das in den Zeiten der Aufklärung war.

Vielleicht haben die Leute also recht, wenn sie mir sagen: «Sei vernünftig, Mirko!». Ja, lasst mich vernünftig sein. Lasst uns alle radikal vernünftig sein. Lasst uns alle an die Grenzen unseres Verstandes reisen, Zusammenhänge sehen, das Wissen voranbringen, uns impfen lassen und den Planeten retten. Oder wie es Che Guevara einmal sagte: «Lasst uns vernünftig sein, lasst uns das Unmögliche erwarten».

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