Ein Konzept nicht nur für die Medizin
Eine Ode an die Antikörper

Antikörper stellen das zentrale Element im Kampf gegen Covid-19 dar und werden von unserem Immunsystem produziert. Doch das Konzept der Antikörper geht weit darüber hinaus und hat Auswirkungen auf Gesellschaft, Demokratie und Philosophie, schreibt unser Autor.
Publiziert: 27.06.2021 um 15:19 Uhr
|
Aktualisiert: 29.06.2021 um 14:12 Uhr
1/5
Er denkt über Wissenschaft nach: Mirko Bischof­berger ist Molekularbiologe, ­Filmemacher und Kommunikationsleiter der EPFL.
Foto: Martin Boyer
Mirko Bischofberger

Durch Covid-19 ist vermehrt von Antikörpern die Rede. Sie sind schliesslich der Hauptgrund dafür, dass wir langsam aus dieser Pandemie herauskommen. Denn alle, die sich impfen lassen, produzieren Antikörper gegen das Virus. Doch das Konzept der Antikörper ist weit faszinierender als blosse Medizin. Es hat auch eine gesellschaftliche und philosophische Komponente, die in unser demokratisches Verständnis hineinreicht.

Das Wort «Antikörper» ist nicht so alt und taucht erst im späten 19. Jahrhundert unter den ersten Immunologen Europas auf. Zu dieser Zeit fanden die Forschenden nämlich heraus, dass es in unserem Blut etwas gibt, das in der Lage ist, Eindringlinge wie Bakterien zu bekämpfen. Ein «Antikörper» war am Anfang also nichts anderes als etwas Unfassbares, das «gegen» einen anderen «Körper» gerichtet war (daher der Name).

Es dauerte weitere hundert Jahre, bis die Immunologen erkannten, dass diese ungreifbaren Antikörper in der Tat ganz konkrete, kleine physikalische Objekte (Eiweisse) sind, die von unserem Immunsystem aktiv produziert werden. Und das Faszinierendste: Jeder Antikörper sieht anders aus und greift nur einen ganz bestimmten Körper spezifisch an, ein bisschen so wie ein Schlüssel, der nur in ein bestimmtes Schloss passt.

Es wehrt einfach alles ab

Stellen wir uns also vor, dass ein neues Bakterium oder Virus in uns eindringt, das wir vorher noch nie gesehen haben. Woher weiss unser Immunsystem nun, welche Antikörper es produzieren soll, um die Eindringlinge zu bekämpfen? Die Antwort ist überraschend einfach: Das Immunsystem weiss es nicht. Schliesslich kann man nichts bekämpfen, was man noch nie vorher gesehen hat. Oder?

Falsch – und hier kommt ein noch faszinierenderer Teil des Immunsystems hinzu. Es braucht nämlich gar nicht zu wissen, was es bekämpft. Es wehrt einfach alles ab, was nicht zu seinem Selbst gehört. In einem evolutiv komplexen Verfahren produziert unser Immunsystem nämlich Antikörper gegen alles, was es sich theoretisch vorstellen kann. Das führt zu mehr als einer Billion verschiedener Antikörpertypen, die ständig in einem Zufallsverfahren generiert werden!

Die zufällige Herstellung von Antikörpern ist aber auch gefährlich, denn es kann dazu führen, dass unser Selbst angegriffen wird, wie bei Autoimmunerkrankungen. Bei Krankheiten wie rheumatoide Arthritis oder Typ-1-Diabetes ist es nämlich unser eigenes Immunsystem, das unsere Gelenke oder insulinproduzierenden Zellen angreift statt eines externen Feindes.

Glücklicherweise werden normalerweise aber all jene Antikörper eliminiert, die für uns schädlich sind. Dies geschieht, indem das Immunsystem die neu gebildeten Antikörper mit all den Dingen vergleicht, die unser Selbst intern präsentiert. Und im Falle einer Übereinstimmung, also wenn der Schlüssel zum Schloss passt, wird der Antikörper gelöscht. Alle verbleibenden Kombinationen sind somit logischerweise Teil des Nichtselbst und werden in den Krieg gegen mögliche Feinde gesandt.

Der Feind muss erst mal kommen

Man kann sich das Immunsystem also wie eine riesige und vielfältige Armee vorstellen, mit Billionen von einzigartigen Soldaten, wobei jeder auf eine andere Manifestation des Feindes gerichtet ist. Die einen bekämpfen die Panzer der anderen Armee, die anderen die Fusssoldaten. Und die Verräter, die den eigenen Staat angreifen würden, werden eben schon vorher eliminiert.

Die Kehrseite dieser natürlichen Antikörperproduktion ist, dass das Immunsystem erst mit dem Feind konfrontiert werden muss, um die korrekte Übereinstimmung bestätigen zu können. Und einmal identifiziert, muss sich der richtige Antikörper dann auch noch vermehren, was enorm viel Zeit braucht. Dies sind die bekannten ein bis zwei Wochen, die vergehen, bis das Immunsystem bei einer klassischen Grippe reagiert und dann endlich beginnt, die Krankheit zu bekämpfen.

Doch gewisse Mikroben nutzen diese Zeit geschickt aus, um dem Immunsystem aus dem Weg zu gehen – oder so schnell zu sein, dass sie uns in gewissen Fällen sogar töten. Wir müssen manchmal also schneller sein als sie.

Durch die Impfung wird der Feind identifiziert

Hier kommt die Impfung ins Spiel. Denn die Impfung ist nichts anderes als die Idee, das Immunsystem mit kleinen und ungefährlichen Teilen eines zukünftigen Feindes zu stimulieren. Die Impfung erlaubt es dem Immunsystem also, dem anzugreifenden Nichtselbst eine konkrete Form zu geben, also den Feind zu identifizieren, mit seinem Repertoire an möglichen Antikörpern zu vergleichen und somit auf den Feind vorbereitet zu sein.

Ein letzter wichtiger Teil des Immunsystems ist das Gedächtnis. Es stellt nämlich sicher, dass die bereits erkannten Feinde auch später wieder erkannt werden. Man kann sich das wieder wie Soldaten vorstellen, die gut darin sind, den Feind zu erkennen, und die nach der Schlacht weiter patrouillieren, falls derselbe Feind wieder auftaucht – ein bisschen wie Veteranen also, die Monate oder Jahre später reaktiviert werden können.

Antikörper erzählen uns also eine Geschichte der aktiven Vorbereitung und des Erkennens von gefährlichen äusseren Kräften, die nicht zu unserem Selbst gehören, sowie der Aufrechterhaltung einer Erinnerung an vergangene Kämpfe. In gewissem Sinne sind diese Elemente auch auf gesellschaftlicher und philosophischer Ebene vorzufinden. In der Tat sagen wir umgangssprachlich oft, dass eine gesunde Demokratie die richtigen Antikörper haben muss.

Man kann unsere Gesellschaft in der Tat wie ein grosses Immunsystem in einem Körper betrachten, nur dass es aus Menschen besteht, nicht aus Antikörpern und Zellen. Doch die Menschen haben dabei die gleiche Aufgabe wie die Antikörper: Sie sollten sich selbst (also unsere Demokratie) nicht angreifen; sie sollten bereit sein, um neue «antidemokratische Viren» zu erkennen; sie sollten sich vermehren und viele sein, um effizient kämpfen zu können; und sie sollten einige ältere Veteranen unter sich haben, die sich daran erinnern, welche Kräfte uns in der Vergangenheit schon einmal untergraben haben. Fehlen diese gesellschaftlichen Antikörper, so leidet jede Demokratie, wie man immer wieder in anderen Ländern sehen kann.

Auch die Gesellschaft braucht Antikörper

Aber auch in der Schweiz sind meines Erachtens gewisse antidemokratische Kräfte im Gange, gegen die wir noch keine Antikörper aufgebaut haben. Ich denke dabei an das soeben akzeptierte Antiterrorgesetz, das in meiner Lektüre eine Gefahr für den demokratischen Organismus darstellt, da es die Demokratie einengt. Doch nun ist die Infektion am Laufen, und uns bleibt somit nur noch zu hoffen, dass wir dadurch lernen werden, auf solche Gefahren in Zukunft besser zu reagieren und Antikörper dagegen aufzubauen.

Und jenseits der demokratischen Parabel geht es letztlich auch um die Frage unserer Identität. Und auch hier können uns Antikörper einen schönen Vergleich aufzeigen. Denn Antikörper sind im Endeffekt die ultimative, materielle Abgrenzung vom Selbst zum Nichtselbst, von unserem Körper zum Rest der Welt. Somit definieren sie letztlich auch unser materielles Selbst. Denn die Summe von allem, was unsere Antikörper tolerieren, das sind schliesslich wir. In diesem Sinne stellen Antikörper sogar eine materielle Identität dar, die wir ohne sie verlieren.

Auf ganz ähnliche Weise kann eine Gesellschaft ohne gute Antikörper auch ihre Identität und ihr Profil verlieren. Wir sollten also alle unsere existierenden Antikörper wertschätzen, sie in uns vermehren lassen, nutzen, auf allen Ebenen, von unseren Körpern bis hin zur Gesellschaft – und uns regelmässig impfen lassen.

Er denkt über Wissenschaft nach

Mirko Bischofberger ist Molekularbiologe, Filmemacher und Kommunikationsleiter der EPFL.

Mirko Bischofberger ist Molekularbiologe, Filmemacher und Kommunikationsleiter der EPFL.

Externe Inhalte
Möchtest du diesen ergänzenden Inhalt (Tweet, Instagram etc.) sehen? Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies gesetzt und dadurch Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen lassen.
Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?