«Was ist denn das für eine Gesellschaft, in der eine Schwangere bis zur Geburt arbeiten muss? Das System ist falsch», sagt Simone (37), Mutter einer neunmonatigen Tochter. Gemäss heutiger Rechtslage in der Schweiz geht eine Schwangere bis zum Platzen der Fruchtblase oder Einsetzen der Geburtswehen ihrer Arbeit nach: Erst ab Geburt greift der 14-wöchige Mutterschutz.
Mit dieser Praxis steht die Schweiz in Europa alleine da. Alle EU- und Efta-Länder kennen die Möglichkeit, einen Teil des Mutterschaftsurlaubs vor der Geburt zu beziehen. Die maximale Bezugsdauer variiert zwischen zwei und elf Wochen. In manchen Ländern gilt gar ein absolutes Beschäftigungsverbot vor der Geburt, etwa in Österreich acht, in Deutschland sechs Wochen vor dem Termin.
Frühe Krankschreibungen
Natürlich ist es nicht so, dass Frauen in der Schweiz Superkräfte hätten. Auch hierzulande fallen Schwangere vor der Geburt aus. Die Studie «Erwerbsunterbrüche vor der Geburt» aus dem Jahr 2018 im Auftrag des Bundesrats zeigte auf: Nur jede sechste Frau arbeitet bis zur Geburt.
Neuere Statistiken existieren nicht. Doch ist ein Trend feststellbar: Waren bislang Krankschreibungen spätestens zwei Wochen vor Geburt die Regel, geschieht dies nun deutlich früher.
So sagt der Generalsekretär der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (SGGG), Thomas Eggimann (55): «Subjektiv habe ich das Gefühl, dass Schwangere viel früher noch Zeit für sich brauchen oder die Arbeit zu anstrengend wird.» Gynäkologinnen und Gynäkologen berichten auch von einer wachsenden Anspruchshaltung unter Schwangeren, die von sich aus auf ein Arztzeugnis drängen – manche schon ab der 20. Woche.
Ruhephase ist bedeutend
Dass Frauen in der Schweiz eigentlich bis zur Geburt arbeiten sollen, sehen Sachkundige kritisch. «Aus fachlicher Sicht ist es empfehlenswert, sich vier Wochen vor Geburt krankschreiben zu lassen», sagt Lucia Mikeler Knaack (64), freischaffende Hebamme mit Erfahrung von 3000 Geburten und aktuell als Landratspräsidentin höchste Baselbieterin.
Eine längere Ruhephase vor der Niederkunft werde immer wichtiger. «Schwangere sind heute gestresster als früher. Im Alltag bleibt so keine Zeit, sich auf die Geburt und das neue Leben vorzubereiten», sagt die ehemalige Präsidentin des Schweizerischen Hebammenverbands.
In den letzten Wochen der Schwangerschaft sind viele Schwangere erschöpft, und sie schlafen schlecht. «Wer mental oder körperlich nicht bereit ist für die Geburt, hat eine höhere Wahrscheinlichkeit für längere oder schwierigere Geburtsverläufe, Stillprobleme oder postnatale Depressionen.»
«Ich war nicht per se krank»
Wer mit Frauen spricht, die früher als zwei Wochen vor Termin krankgeschrieben wurden, hört Geschichten, die von Erleichterung und Trotz geprägt sind. «Ich sagte mir: Es ist mein gutes Recht, mich auf mein Baby und die bevorstehende Geburt zu fokussieren», sagt Simone, die sechs Wochen vor Termin zu 100 Prozent krankgeschrieben wurde. «Ich war nicht per se krank, hatte aber immer wieder mit einem harten Bauch zu kämpfen.»
Um die Gefahr von frühzeitigen Wehen und einer Frühgeburt zu mindern, schrieb ihre Ärztin sie krank. Zu Beginn der Schwangerschaft war die Psychologin noch davon überzeugt gewesen, dass sie bis zur Geburt arbeiten würde. «Ich musste aber feststellen: Eine Schwangerschaft ist schwer und anstrengend. Als die Ärztin die Krankschreibung vorschlug, habe ich mich nicht mehr gewehrt.»
Vorgeburtlicher Mutterschutz in der Schweiz?
«Die Krankschreibung hat für viele Frauen einen bitteren Beigeschmack», sagt Hebamme Mikeler Knaack. «Es wäre anders, wenn man sagte: Jede Schwangere hat das Recht, sich ab einem bestimmten Zeitpunkt von der Arbeit befreien zu lassen.»
Ein Systemwechsel ist nicht undenkbar. Man kann sogar feststellen: Es bewegt sich etwas. Städte wie Luzern, Biel und Zürich haben dieses Jahr entschieden, den Mutterschutz für ihre Angestellten auf zwei oder drei Wochen vor der Geburt zu erweitern. Eine Krankschreibung ist dort für städtische Angestellte somit nicht mehr nötig. In weiteren Kantonen und Städten sind Vorstösse hängig.
Auch in der Privatwirtschaft gibt es Firmen, die vorangehen. Wer beispielsweise bei Novartis oder Roche arbeitet, erhält vier zusätzliche Wochen Mutterschaftsurlaub – und kann diese ab vier Wochen vor der Geburt beziehen.
Auf nationaler Ebene hat der Ständerat im vergangenen Juni einen Vorstoss abgelehnt, der drei Wochen Mutterschutz vor Geburtstermin verlangte. Eine gleich lautende Motion von Nationalrätin Flavia Wasserfallen (43, SP/BE) ist hängig.