Mit einem Knopfdruck wird das Kinderzimmer zur Konzerthalle. Aus dem CD-Player singt die Kinderband Schwiizergoofe, auf dem Teppich tanzt Yunus (5). «Flüg im Wind, Schmätterling, ich wett die ganzi Wält mal gseh.» Yunus singt laut mit und schliesst die Augen, dreht sich, scheint alles um ihn herum zu vergessen.
Im Türrahmen klatschen seine Eltern Ursi (38) und Baza Barry (39). Heute strahlt Yunus wieder vor Freude. Doch seine letzten eineinhalb Jahre waren unvorstellbar hart. An Pfingsten 2022 erhielten die Barrys eine der schlimmsten Diagnosen, die eine Familie treffen kann: Ihr kleiner Yunus hat akute Leukämie. Blutkrebs.
Yunus ist eins von rund 350 Kindern, die in der Schweiz jedes Jahr an Krebs erkranken. Zum internationalen Kinderkrebsmonat September erzählen die Barrys aus Rüti ZH, was die Diagnose für ihre Familie bedeutet – und wie sie es geschafft haben, nicht die Hoffnung zu verlieren.
Nach wenigen Wochen kam das Fieber
Es ist ein strahlender Sommertag im Zürcher Oberland. Im Garten blüht der Schnittlauch violett, im Hochbeet wachsen Salatköpfe. Die Barrys haben sich im Wohnzimmer für Guetzli und Sirup versammelt: Da sind die Eltern Ursi und Baza, Yunus, sein Bruder Ibrahim (8) und seine Schwester Mariam Seray (1).
Auf den ersten Blick keine Spur der Strapazen, die die Familie durchgemacht hat. Nur der Ohrfiebermesser steht mitten auf dem Tisch. «Immer, wenn sich Yunus schlecht fühlte, wollte er Fieber messen», erzählt Ursi Barry. Die Zahlen auf dem Bildschirm als Beweis für den unsichtbaren Schrecken, der sich in seinem Körper ausgebreitet hat.
Baza Barry zeigt auf seinem Handy Fotos vom Frühling 2022: Yunus lachend am Strand. Ursi und Ibrahim, Hand in Hand, die sich in die türkisblauen Wellen stürzen. «Direkt vor den Ferien waren wir noch beim Kinderarzt, inklusive Bluttests. Alles war in bester Ordnung», sagt der Vater.
Kurz nach den Ferien kam das Fieber. Erst vermutete der Kinderarzt eine Bronchitis. Doch es wurde immer schlimmer. «In der Nacht konnte Yunus kaum atmen und hatte Schmerzen, sein Puls raste», erinnert sich Ursi Barry. Die Blutwerte bestätigten schliesslich die Befürchtungen des Arztes. Ursi Barry war wie gelähmt: «Wir hatten keine Ahnung, was da auf uns zukommt.»
Die Symptome von Leukämie
Für die Chemotherapie wird Yunus ins Universitäts-Kinderspital Zürich verlegt. «Ich musste mir immer wieder sagen, dass wir das alles wegen der Krankheit tun müssen», sagt seine Mutter. «Zum Glück war das Team dort sehr fürsorglich.»
Übersetzt bedeutet Leukämie «weisses Blut». Sie ist eine Erkrankung des Knochenmarks, dort, wo das Blut gebildet wird. Die weissen Blutkörperchen, die normalerweise Infektionen bekämpfen, verändern sich, werden funktionsunfähig und vermehren sich unkontrolliert. Weil dadurch gesunde Blutzellen verdrängt werden, kann das Blut seine lebensnotwendigen Aufgaben nicht mehr übernehmen.
Die akute Form kann sich innerhalb weniger Tage bis Wochen entwickeln. Wie bei Yunus. Zu den Symptomen gehören unter anderem Fieber, Gewichtsverlust, häufige Infektionen, Schwindel, Abgeschlagenheit und Blässe. «Leukämien sind die häufigsten Krebsarten bei Kindern, gefolgt von Hirntumoren», weiss Jean-Pierre Bourquin (57) vom Universitäts-Kinderspital Zürich. Er ist Chefarzt der Onkologie.
Yunus' Alter ist typisch für die Krankheit: Ab etwa zwei Jahren entwickelt sich das Immunsystem von Kleinkindern auf Hochtouren. «Weil dabei dermassen viele neue Zellen entstehen, ist die Gefahr für Kopierfehler – und somit für Krebszellen – in dieser Zeit stark erhöht», so Bourquin. Ausserdem hat Yunus Trisomie 21. Das Syndrom erhöht das Risiko, an Leukämie zu erkranken.
Kinder ertragen eine höhere Dosis Chemotherapie, ihre Heilungschancen sind deutlich besser. Während nur dreissig Prozent der Erwachsenen Leukämien überleben, können Bourquin und sein Team etwa vier von fünf Kinder retten. «Aber es gibt natürlich immer wieder Fälle, bei denen wir an die Grenzen der Medizin stossen», sagt der Chefarzt. «Das ist für alle Beteiligten enorm belastend.»
Erst nach drei Jahren gilt ein Kind als geheilt
Yunus schnappt sich ein Guetzli. Der Krebs hat ihn verändert. «Seit er krank ist, macht er manchmal seine Zimmertür zu, will allein sein», sagt seine Mutter. Dort macht Yunus die Musik an, legt sich auf sein Bett und singt mit, ganz leise und nachdenklich. Derzeit ist er in der sogenannten Erhaltungstherapie: Fast jede Woche muss er in die Kontrolle und erhält eine niedrige Dosis Chemo. Erst nach drei Jahren gilt ein Kind als vollständig geheilt.
Einen Moment im Spital wird Vater Baza Barry nie vergessen. Es war der Abend vor einer Narkose, in der Intensivtherapie hatte sein Sohn unzählige davon: Lumbalpunktionen direkt ins Knochenmark, damit die Chemo auch ins Gehirn gelangt. Baza hatte die drei vorherigen Nächte im Krankenzimmer verbracht, musste nun aber nach Hause, um Ursi mit Ibrahim abzulösen. Seine Frau würde später am Abend wieder ins Spital kommen.
Als der Vater seine Schuhe schnürte, zog Yunus an den vielen Schläuchen in seinem Körper, wollte seine kleinen Schuhe ebenfalls holen und mit nach Hause kommen. «Ich sagte: Yunus, wenn ich könnte, würde ich dich sofort mitnehmen, das verspreche ich dir.» Bazas Stimme bricht. Er wischt sich die Tränen aus den Augen. In dieser Nacht schlief er keine Sekunde. «Meinen Sohn, den ich über alles liebe, in diesem Zimmer zurückzulassen – ich dachte, diese Qual überlebe ich nicht.»
Ursi nimmt Bazas Hand. Die beiden sind seit über zwanzig Jahren ein Paar. Sie arbeitet in der Pflege, er als Elektroinstallateur und Lastwagenfahrer für die Post. Zwei Kinder, schwanger und eine Krebsdiagnose: «Mehr Katastrophe ging, glaube ich, gar nicht», sagt sie.
Jemand war immer auf der Arbeit oder zu Hause, jemand im Krankenhaus. Freunde, Familie und Arbeitskollegen halfen, wo immer es möglich war. Glück im Unglück: Weil Ursi Barry schwanger und danach im Mutterschaftsurlaub war, musste sie nicht durchgehend arbeiten. Sie sagt: «Ich weiss wirklich nicht, wie andere Familien das machen.»
Eine Goldmedaille für Yunus
In Yunus' Zimmer schimmert es golden: Am Fenster hängen die Goldmedaillen, die Ibrahim beim Wettrennen in Rüti gewonnen hat. Er wollte unbedingt der Schnellste sein, damit er die Medaillen und Pokale zu Yunus ins Krankenhaus bringen kann. «Wir sind so stolz auf ihn», sagt Ursi Barry.
In so einer Situation müssen alle ihr Bestes geben, bestätigt ihr Ehemann. «Wir haben immer versucht, positiv zu bleiben. Ich glaube, sonst hält man das gar nicht aus.» Die Krankheit hat die Barrys noch enger zusammengeschweisst.
«Klar haben wir Angst vor einem Rückfall», sagt Ursi. Aber sie will versuchen, ihr Leben so normal wie möglich weiterzuleben. Sie lächelt. «Und mit drei Kindern, die man alle so fest lieb hat, bleibt einem zum Glück nicht mehr allzu viel Zeit für Sorgen.»
Die Mission der Stiftung Sonnenschein ist es, krebskranke Kinder und deren Familien in dieser schwierigen Lebenslage zu unterstützen, zu entlasten und ihnen Freude zu schenken. Das Angebot der Stiftung umfasst unter anderem die Durchführung von Anlässen für betroffene Familien, finanzielle Soforthilfe in Notlagen sowie die Bereitstellung von Elternzimmern direkt neben dem Universitäts-Kinderspital Zürich. Die Stiftung finanziert sich ausschliesslich durch Spenden. Mehr Infos unter: www.sonnenschein.ch.
Die Mission der Stiftung Sonnenschein ist es, krebskranke Kinder und deren Familien in dieser schwierigen Lebenslage zu unterstützen, zu entlasten und ihnen Freude zu schenken. Das Angebot der Stiftung umfasst unter anderem die Durchführung von Anlässen für betroffene Familien, finanzielle Soforthilfe in Notlagen sowie die Bereitstellung von Elternzimmern direkt neben dem Universitäts-Kinderspital Zürich. Die Stiftung finanziert sich ausschliesslich durch Spenden. Mehr Infos unter: www.sonnenschein.ch.
Weil der Alltag mit einem krebskranken Kind schwer planbar ist, unternehmen die Barrys nur noch spontane Ausflüge. Im August ging es für sie endlich wieder einmal in die Ferien: ins Sommerlager der Stiftung Sonnenschein, die sich für krebskranke Kinder und ihre Familien einsetzt.
«Chum mer tröchned alli Träne und chützled d Wält, demit sie lacht», singen die Schwiizergoofe aus dem CD-Player. Yunus und Ibrahim spielen Fangis. Auch nächsten Sommer will Ibrahim wieder der Schnellste sein und die Goldmedaille mit nach Hause bringen. Für Yunus. Bis sein kleiner Bruder wieder ganz gesund ist.