Eine Familie ist in eine Diskussion vertieft. Der an Parkinson-Demenz erkrankte Grossvater will auch etwas sagen – doch seine Frau fällt ihm ständig ins Wort und beendete seine Sätze. Dabei könnte er sich noch selber äussern. Alles, was er bräuchte, ist etwas mehr Zeit.
Solche Situationen sind für viele Demenzkranke Alltag. Das zeigt der vergangene Woche erschienene World Alzheimer Report 2019 – die bislang grösste Studie zum krankhaften Gedächtnisverlust. Knapp 70'000 Personen aus 155 Ländern haben an der Umfrage teilgenommen. Die Untersuchung beleuchtet schonungslos ein bisher wenig beachtetes Problem: die Gefühlswelt der Erkrankten.
Die Fakten sind erschreckend. Fast 70 Prozent aller Betroffenen machen die Erfahrung, dass ihre Meinung nicht länger ernst genommen wird. «Was willst du schon wissen» oder «Deine Ansicht zählt nicht mehr», so die Begründungen. 38 Prozent werden aufgrund ihres Gebrechens gemieden, 47 Prozent deswegen sogar verspottet.
Unfaire Behandlung und Diskriminierung im Alltag
Das Problem ist auch hierzulande akut, wie Gespräche mit Pflegekräften und Experten zeigen. Stefanie Becker, Ärztin und Geschäftsleiterin von Alzheimer Schweiz, bestätigt: «Als meine Mutter an Demenz erkrankt ist, hat die Ärztin nur mit mir über die Diagnose gesprochen. Meine Mutter hat sie komplett ignoriert, obwohl sie direkt vor ihr sass.» In einem anderen Fall, den Becker kennt, informierte das Pflegepersonal eine Patientin nicht über den Tod ihres Bruders. Der Grund: ihre Krankheit.
Dabei bedeutet die Diagnose Demenz nicht, dass die Betroffenen nichts mehr können oder nicht mehr in Gespräche und Entscheidungen eingebunden werden müssen. «Das ist nicht nur ungerechtfertigt, sondern diskriminierend», sagt Becker. Wenn sich Patienten nicht mehr verbal äussern können, gehen ihre Wünsche und Bedürfnisse im stressigen Pflegealltag manchmal unter.
Dunkelziffer der Betroffenen in der Schweiz ist hoch
Im privaten Umfeld sieht es ähnlich aus. Rund 60 Prozent aller Demenzkranken leben zu Hause oder bei Angehörigen. Dort werden sie, so lange es geht, von der Lebensgefährtin, der Tochter oder der Schwiegertochter betreut – die Aufgabe ist meist Frauensache. Erst im weit fortgeschrittenen Stadium erfolgt die Überweisung in ein Pflegeheim.
Manchmal wissen der Partner oder der Nachwuchs aber gar nicht, was los ist. Denn die Krankheitssymptome werden noch immer als normale Altersschwäche verkennt. «Jetzt reiss dich mal zusammen», heisst es, wenn die Ehefrau vergisst einzukaufen und das Kochen verlernt. Sie fühlt sich überfordert, schiesst zurück. Ein Teufelskreis an Vorwürfen – dann kommt es zum Streit.
Schätzungsweise hat nur die Hälfte aller Betroffenen eine fachärztliche Diagnose. Dabei wäre diese wichtig. Laut Professor Stefan Klöppel kann der Befund die psychische Belastung reduzieren. Der Direktor und Chefarzt der Universitätsklinik für Alterspsychiatrie und Psychotherapie der UPD in Bern erklärt: «Wenn dem Umfeld klar ist, dass es sich nicht um böse Absichten, sondern um eine Krankheit handelt, steigt das Verständnis für die Situation.»
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Fehler sollten akzeptiert statt korrigiert werden
Eine demenzkranke Person ist oft in Erinnerungen aus der Vergangenheit versunken. Sie erschafft sich eine neue Realität, lebt in ihrer eigenen Welt. In dieser Welt kommt es vor, dass eine 80-jährige Dame morgens aufsteht und zur Schule gehen will. Sie darauf hinzuweisen, dass sie schon seit mehreren Jahrzehnten aus dem schulpflichtigen Alter raus ist, bringt nichts. Zu erklären, dass die Schule heute geschlossen ist, reicht. «Falsche Überzeugungen sollten nicht korrigiert, sondern akzeptiert werden», weiss Klöppel.
Es ist auch wichtig, dass Demenzkranke trotz eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten in Aktivitäten eingebunden und nicht wie Aussätzige behandelt werden. Die glücklichsten Patienten scheinen jene zu sein, die noch möglichst viel selber entscheiden dürfen. Pflegeheime, die für ihre Bewohner weder festgelegte Schlafenszeiten noch vorgeschriebene Freizeitprogramme haben, machen überdurchschnittlich positive Erfahrungen.
Auch kranke Menschen verdienen Respekt
Am Anfang der Erkrankung merken die Betroffenen, dass ihre Gedächtnisleistung abnimmt. Ihre Schwächen überspielen sie. Nässt ein Demenzkranker in sein Bett, kann er behaupten, jemand hätte ein Kanne Wasser in sein Bett gekippt. In dieser Phase der Erkrankung können sich Patienten bei unfairem Umgang noch wehren. «Du behandelst mich wie ein Baby», lautet der Vorwurf.
Ist die Krankheit fortgeschritten, können sie ihren Willen nicht mehr zur Sprache bringen. Auch was das Gegenüber sagt, kommt nicht mehr an. Die Absichten und Emotionen, die hinter einem Satz stecken, nehmen Patienten aber sehr wohl wahr.
Sie spüren die Anspannung, den bissigen Unterton oder den Vorwurf in der Stimme. Sie merken, ob es jemand gut mit ihnen meint oder nicht – und reagieren. Ein trauriger Blick, eine verkrampfte Körperhaltung oder Aggressivität bringen die Verletztheit zum Ausdruck. In unserer lauten, hektischen Welt leiden die Erkrankten still. Was ihnen guttut, sind nette Worte, Wertschätzung und Respekt. Wie uns allen.