Wenn alles dunkel und still ist
1:59

Clara Clavuot ist taubblind
Wenn alles dunkel und still ist

Noch nie hat Clara Clavuot Worte gehört. Wie die Welt aussieht, weiss sie nur aus ihren Erinnerungen. Und davon hat sie viele. Die Taubblindheit hält die 80-Jährige aber nicht davon ab, neue zu schaffen.
Publiziert: 19.06.2021 um 18:20 Uhr
|
Aktualisiert: 20.06.2021 um 13:52 Uhr
1/8
Clara Clavuot lebt allein in einer Alterssiedlung in Zürich-Seebach. Bei alltäglichen Aufgaben ausser Haus ist sie aber immer in Begleitung.
Foto: Nathalie Taiana
Anna Uebelhart

Clara Clavuot sitzt auf ihrem gemütlichen Sofa in ihrer Alterswohnung in Zürich-Seebach und strickt. Sie arbeitet zügig und präzise, ist komplett in ihre Arbeit vertieft. Hin und wieder hört man ein leises Klappern, wenn die Nadeln aufeinanderschlagen. Clara Clavuot hört das Geräusch nicht. Sie sieht auch den Schal nicht, der Masche für Masche in ihren Händen entsteht. Die 80-Jährige ist taubblind.

Dass Clara Clavuot nicht sehen oder hören kann, fällt beim ersten Blick in ihre Wohnung nicht auf. An den Wänden hängen gemalte Bilder und Schweizer Kuhglocken, auf einem Regal stehen reihenweise Fotoalben. Viele Gegenstände sind Erinnerungen. Die abstrakten Elefantenbilder an der Wand etwa hat sie von einer Afrikareise mitgebracht, und die Kuhglocken hat ihr ein Bauer aus dem Berner Oberland geschenkt. Darauf angesprochen, lächelt Clara Clavuot. Sie lasse die Glocken gerne klingeln. Auch wenn sie sie nicht hört, spüren kann sie sie trotzdem.

Die Bilder in den Fotoalben stammen ebenfalls von Reisen nach Griechenland und Italien, die Clara Clavuot noch vor ihrer Erblindung machte. Das Fotografieren sei für sie damals ein Hobby gewesen. Sehen konnte sie mit 25 Jahren noch, danach verschlechterte sich ihr Sehvermögen im Verlauf ihres Lebens, bis sie ihr Augenlicht komplett verlor. Aber auch mit der Einschränkung wollte sie weiter die Welt entdecken – auf ihre Weise. Sie war in Spanien, Russland, Finnland, den USA und Thailand. In Thailand habe es ihr am besten gefallen, sagt sie.

Über 57'000 Personen mit Hörsehbehinderung in der Schweiz

Gehörlos ist Clara Clavuot seit ihrer Geburt. Der Verlust der beiden Sinne ist vermutlich genetisch bedingt, denn von ihren drei Geschwistern ist auch ihr jüngerer Bruder von Taubblindheit betroffen. Damit sind Clara und ihr Bruder gemäss Untersuchungen des Schweizerischen Zentralvereins für das Blindenwesen (SZBLIND) zwei von über 57'000 Betroffenen mit einer Hörsehbehinderung in der Schweiz. Hörsehbehinderung und Taubblindheit werden aber nur selten als solche statistisch erfasst, was eine Bezifferung erschwert. Oft werden Personen im IV-Alter entweder der Hörbehinderung oder der Sehbehinderung zugeordnet, und im AHV-Alter wird die Hörsehbehinderung in vielen Fällen nicht erkannt. Wenn man Menschen, die im Pensionsalter hörsehbehindert werden, berücksichtigt, könnten laut der Organisation bis zu 200'000 Personen in der Schweiz an einer doppelten Sinneseinschränkung leiden.

Dass Clara Clavuot nichts hören kann, haben ihre Eltern schnell bemerkt. Sie ging nicht zur Schule, sondern verbrachte ihre Tage daheim auf dem Hof in Zernez GR. Als ihre Eltern 1949 von einer Spezialschule in Zürich hörten, entschlossen sie sich, ihre Tochter, dorthin zu schicken. Bereits als Achtjährige musste sie ihre Heimat verlassen, und ihr Vater brachte sie nach Zürich, wo sie in Wollishofen ein Internat für Kinder mit Hörbeeinträchtigung besuchte. Dort lernte sie zu rechnen, zu lesen und zu schreiben. Gebärdensprache, erinnert sie sich, sei damals verboten gewesen.

Sie war schon früh auf sich allein gestellt. Die Sehschwäche bis zur Erblindung führte zu noch mehr Isolation. Doch damit, dass sie weder hören noch sehen kann, habe sie sich abgefunden, sagt Clara Clavuot. Sie sei nicht einsam.

Kommunizieren auf der Handfläche

Und doch gibt es einige Herausforderungen, denen sie im Alltag begegnet. Beim Gespräch ist Ursula Weiss dabei. Sie ist Kommunikationsassistentin und beherrscht Lormen. Das ist ein Handalphabet, bei dem Buchstaben durch Berührungspunkte und -striche in der Handfläche dargestellt werden. Ein «A» ist zum Beispiel ein Tippen auf die Daumenkuppe. Ein Kreis in der Mitte der Handfläche entspricht dem Buchstaben «S» und ein leichtes Klopfen auf die Hand bedeutet «ja». Zahlen werden in ihrer üblichen Form in die Hand geschrieben. Ein Gespräch dauert lange und bedarf viel Konzentration. Die Fragen lormt Ursula Weiss in vereinfachter Form, und Clara Clavuot antwortet mündlich. Doch sie zu verstehen, braucht Übung. Es klingt, als ob sie in einer fremden Sprache mit einer völlig eigenen Melodie spricht, denn wie unsere Worte klingen, hat sie noch nie gehört. Deshalb wiederholt Ursula Weiss Claras Antworten in verständlicher Sprache.

Aber nicht nur beim Kommunizieren, auch bei anderen alltäglichen Aufgaben braucht Clara Clavuot Hilfe. Einmal am Tag kommt die Spitex vorbei. Nicht alle Pflegerinnen beherrschen Lormen, weshalb an der Wand in der Küche eine Darstellung einer Lormhand hängt. «So können die Pfleger ihr den Blutdruck mitteilen. Den zu wissen, ist ihr wichtig», sagt Ursula Weiss. Viele der Hilfsmittel in ihrem Alltag funktionieren mit Vibration. Clara Clavuot hat ein Gerät in der Hosentasche, das vibriert, wenn jemand die Türklingel betätigt. Auch ihre Uhr teilt ihr mittels Vibration mit, wie spät es ist. Und beim Einschenken von Kaffee oder Tee meldet ein Wasserstandsmesser, den man über den Rand der Tasse hängen kann, sobald das Wasser ihn berührt.

Ferien und Freizeitangebote für Betroffene

Das Haus verlässt die 80-Jährige seit sechs Jahren nicht mehr allein. Einmal in der Woche geht eine freiwillige Begleitperson, organisiert durch SZBLIND, mit ihr einkaufen, und auch bei Spaziergängen ist sie immer in Gesellschaft. Sie geht gerne im Wald spazieren. Neben dem Stricken ist es eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen. Eine weitere Leidenschaft ist das Kochen. Dabei probiert sie die unterschiedlichsten Rezepte aus. Die Kochbücher in der Küche sind in Punktschrift, dem Braille-Alphabet, gehalten. Auf dem Tisch im Wohnzimmer liegt ein Prospekt mit Veranstaltungen, die auf hörsehbehinderte und taubblinde Menschen zugeschnitten sind. Am liebsten besucht Clara Clavuot die Ateliers und kreativen Kurse und geniesst die Ausflüge zu kulturellen Anlässen sowie die Ferienwochen.

Dank solchen Angeboten kann sie Momente erleben, die ihr allein verwehrt wären. Doch noch wichtiger wäre Inklusion in die Gesellschaft. Damit das gelingt, müssen die Bedürfnisse der Betroffenen gehört werden: «Es wäre schön, wenn mehr Menschen Lormen beherrschen würden», sagt Clara Clavuot. Damit könne man den Alltag Hörsehbehinderter enorm erleichtern. Aktuell hat die 80-Jährige in ihrem Umfeld knapp 20 Personen, die auf diese Weise mit ihr kommunizieren können. Dazu gehört auch ihre Schwester, die ihr gerade aus den Ferien eine Postkarte geschickt hat. Natürlich möchte Clara Clavuot wissen, was drin steht. Also nimmt Ursula Weiss ihre Hand und beginnt zu schreiben.

Aktion zum Internationalen Tag der Taubblindheit

Der Schweizerische Zentralverein für das Blindenwesen (SZBLIND) nimmt anlässlich des Internationalen Tags der Taubblindheit am 27. Juni an der Yarn-Bombing-Aktion der Organisation Deafblind International teil. Die Ausstellung «WOLLEn!» soll an sieben Standorten in der Schweiz zeigen, dass Inklusion gelingt, wenn sie gewollt ist. Hörsehbehinderte und taubblinde Menschen haben gemeinsam mit Menschen ohne Behinderung Verhüllungen für Denkmäler, Brücken, Brunnen und Bäume im öffentlichen Raum gestrickt. Die zusammengenähten Strickteppiche sollen zeigen, dass eine Inklusion und Zusammenarbeit mit der richtigen Unterstützung gelingen kann. Auch Clara Clavuot hat sich an der Strickaktion beteiligt. Eine Woche lang, von heute Sonntag bis zum 27. Juni, werden die gestrickten Kunstwerke in St. Gallen, Zürich, Bern, Lausanne, Bellinzona, Monthey VS und Langnau am Albis ZH zu sehen sein.

Der Schweizerische Zentralverein für das Blindenwesen (SZBLIND) nimmt anlässlich des Internationalen Tags der Taubblindheit am 27. Juni an der Yarn-Bombing-Aktion der Organisation Deafblind International teil. Die Ausstellung «WOLLEn!» soll an sieben Standorten in der Schweiz zeigen, dass Inklusion gelingt, wenn sie gewollt ist. Hörsehbehinderte und taubblinde Menschen haben gemeinsam mit Menschen ohne Behinderung Verhüllungen für Denkmäler, Brücken, Brunnen und Bäume im öffentlichen Raum gestrickt. Die zusammengenähten Strickteppiche sollen zeigen, dass eine Inklusion und Zusammenarbeit mit der richtigen Unterstützung gelingen kann. Auch Clara Clavuot hat sich an der Strickaktion beteiligt. Eine Woche lang, von heute Sonntag bis zum 27. Juni, werden die gestrickten Kunstwerke in St. Gallen, Zürich, Bern, Lausanne, Bellinzona, Monthey VS und Langnau am Albis ZH zu sehen sein.

Externe Inhalte
Möchtest du diesen ergänzenden Inhalt (Tweet, Instagram etc.) sehen? Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies gesetzt und dadurch Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen lassen.
Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?