«Ich glaube, wenn Frauen die Welt regieren würden, gäbe es grössere Friedensbemühungen. Einfach, weil wir als Frauen unsere Kinder nicht ermordet sehen wollen. Vielleicht bin ich komplett idealistisch, aber ich glaube, wir bleiben verflucht, bis Frauen gleichberechtigte Machtpositionen haben.» Das twitterte vor einigen Tagen die Schauspielerin Meryl Streep (72). Und tatsächlich sind es einmal mehr alte, weisse Männer, oder überhaupt Männer, die den neusten Krieg in der Ukraine befehligen. Es sind Männer, die kämpfen und morden und vergewaltigen. Und es sind nicht nur Männer, sondern auch Frauen und Kinder, die darunter leiden. Die Frage ist deshalb naheliegend: Sind Männer am Krieg schuld? Und gäbe es ohne Männer keinen Krieg?
Verschiedene Expertinnen und Experten vertreten eigentlich die gleichen Ansichten zu dieser nur vordergründig naiven Frage. Nur vordergründig naiv ist sie deshalb, weil sich sofort weitere Fragen stellen: Liegt es in der Biologie des Mannes begründet, zu kämpfen und gewalttätig zu sein, weil sie, anders als Frauen, mehr Testosteron haben und deshalb naturgemäss einfach aggressiver sind? Oder wird Männern die Aggression sozusagen anerzogen? Ja, sagt zur letzten Frage ganz klar Leandra Bias (33) – und dezidiert nein dazu, ob einfach die Biologie «schuld» an männlicher Aggression sei.
Die vergleichende Politologin und Genderforscherin, die soeben an der Universität Oxford doktoriert hat, ist auf jüngere Geschichte und Politik in Russland und Serbien spezialisiert und forscht dazu am Friedensforschungsinstitut swisspeace der Universität Basel. Bias sieht die Schuld im patriarchalen System: «Schon von Kindesalter an werden wir in Rollen gedrängt. Aggressionen bei Jungen werden damit entschuldigt, dass es halt Jungen seien – und Mädchen wird abtrainiert, überhaupt Aggressionen zeigen zu dürfen.» Es brauche im späteren Leben sehr viel Selbstreflexion und Kraft, sich solcher Rollen überhaupt bewusst zu werden und aus ihnen ausbrechen zu können. Mit Testosteron habe das gar nichts zu tun. Vielmehr sei der Verweis auf die Biologie eine billige Entschuldigung, um nichts ändern zu müssen.
Nicht das Geschlecht ist für Machtmissbrauch verantwortlich, sondern die Machtkonzentration
«Unsere Gesellschaft sieht alles durch die Brille der Geschlechterrollen, also: Frauen sind lieb, aufopfernd und fürsorgend, Männer sind starke Versorger, unabhängig und manchmal auch aggressiv. Deshalb wollen wir nicht wahrhaben, dass Frauen genauso grausam und brutal sein können wie Männer», sagt Bias. Denn dann müssten wir ja feststellen, dass unsere Geschlechterrollen nicht stimmen – und etwas ändern. Kriegsverbrecherinnen werde deshalb viel weniger oft der Prozess gemacht als Kriegsverbrechern. Als «Beleg» für weibliche Grausamkeit führt sie etwa die Verbrechen und Ermordungen von Kindern an, die durch katholische Nonnen begangen wurden. Sowohl in Irland wie auch in jüngster Zeit in Kanada kamen Massengräber von namenlosen Kindern zum Vorschein, die in der Obhut von Klosterfrauen standen. Aber auch am Holocaust seien Frauen beteiligt gewesen.
Auch Kristina Lunz (32) stösst ins selbe Horn. Die an der Oxford-Universität ausgebildete Politikwissenschaftlerin und ehemalige Beraterin des deutschen Aussenministeriums hat unzählige Kampagnen lanciert, landete 2019 auf der «30 unter 30»-Liste des Wirtschaftsmagazins «Forbes» und ist Autorin des Buchs «Die Zukunft der Aussenpolitik ist feministisch». Sie erklärt: «Es ist nicht das Geschlecht, sondern es ist die Machtkonzentration einzelner Personen, die Machtmissbrauch begünstigen. Wenn wir geboren werden, haben wir alle dasselbe Gewaltpotenzial. Wir leben einfach seit sechs- bis achttausend Jahren im Patriarchat, das Männern Macht über Frauen gibt und männliche Gewalt gegenüber Frauen akzeptiert.» Mit empörenden Folgen, wie Lunz sagt:«Jeden Tag versucht in Deutschland ein Mann, seine Partnerin oder Ex-Partnerin zu töten. Jeden dritten Tag gelingt ihm das.» Auch in der Schweiz stirbt alle zweieinhalb Wochen eine Frau an den Folgen männlicher Gewalt. «Und global gesehen», sagt Lunz, «das belegen mehrere Studien, ist das grösste Gesundheitsrisiko von Frauen männliche Gewalt.»
Frauenhass zu schüren, ist Teil des Systems
Trotzdem bleibt die Frage, wie man junge Männer, wie aktuell russische und weissrussische Soldaten, dazu bringt, andere zu töten, Grausamkeiten zu verüben und – worauf einzelne, bis jetzt unbestätigte Berichte in der Ukraine hindeuten – Frauen zu vergewaltigen. Ein kurzer Exkurs in die Soziologie und in die Psychoanalyse hilft. So erklärt der deutsche Professor für Soziologe und Sozialpsychologie, Rolf Pohl (71), in einem Interview gegenüber der Heinrich Böll Stiftung: «Heterosexuelle Männer begehren Frauen, aber sie hassen gleichzeitig ihr Begehren, weil sie sich als abhängig von Frauen, ihren Körpern und ihrer Sexualität empfinden. Hier ist es nur noch ein kleiner Schritt zum Frauenhass.» Vereinfacht lässt sich sagen: Weil Jungen von der Gesellschaft schon im Kleinkindalter gesagt wird, sie müssten stark sein und dürften keine Schwäche zeigen, müssen sie Schwäche verachten – und somit auch die Eigenschaften, die Mädchen antrainiert werden, also nett, nachgiebig und hilfsbereit zu sein. Spätestens im Pubertätsalter werden Frauen von heterosexuellen Männern also gleichermassen begehrt und, weil sie schwächer sind, verachtet.
Und diese Verachtung lässt sich gezielt instrumentalisieren: «Es ist leider Teil des Systems, Frauenhass zu schüren und junge Männer so dazu zu bringen, Gewalt auszuüben – und es folgt immer demselben Skript», sagt Leandra Bias. «Eigentlich wird in Militärakademien gezielt weiterverfolgt, was schon auf Schulhöfen geschieht: Wenn man keine Härte zeigt, wird man verspottet, und zwar mit Attributen und Schimpfwörtern, die Weiblichem oder Homosexuellem zugeschrieben werden.» Gleichzeitig werde «der Feind» abgewertet, indem man ihm dieselben vermeintlich «typisch weiblichen» Eigenschaften andichte, also schwach zu sein oder homosexuell. Ein «Feind» wird so entmenschlicht, als schwach, degeneriert und deshalb hassenswert dargestellt.
Die zweite Stufe ist gemäss Bias dann, einen erfundenen Übergriff dieses Feindes zu präsentieren, um gezielt weiteren Hass zu schüren. Krieg und männliche Gewalt gegenüber Frauen und Kindern seien deshalb eigentlich nur eine Zuspitzung der Diskriminierung im Alltag.
Je gleichgestellter eine Gesellschaft, desto reicher und erfolgreicher sind alle
«Volkswirtschaftlich gesehen ist es erwiesen, dass Gesellschaften, die einen hohen Gleichberechtigungsindex haben, wirtschaftlich erfolgreicher, also reicher sind», sagt Lunz. Sie verstricken sich, das zeigt die Forschung der US-Professorin für Politikwissenschaften, Valerie Hudson (64), auch signifikant weniger in aussenpolitische Konflikte. Gleichstellungsbemühungen systematisch zunichtezumachen, wie dies etwa in Russland über die letzten Jahre geschah, dient aber einzelnen wenigen trotzdem. Putin schlage so gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe, meint Bias: «Zum einen sichert eine solche rückständige Politik Männern einige Privilegien. Insbesondere bei verunsicherten, älteren oder weniger gebildeten Männern lässt sich so eine treue Wählerschaft finden.» Gleichzeitig schreibt er «dem Westen» dieselben weiblich besetzten Eigenschaften zu, also dekadent, schwach und degeneriert zu sein, um ein Feindbild aufzubauen – was sich wiederum benutzen lässt, um junge Männer zu radikalisieren. Und es lässt sich so auch innen- und aussenpolitische Aggression rechtfertigen, um das eigene Regime zu stärken. Denn dadurch kann die Gewalt gegen Feministen und Feministinnen im Land einerseits und gegen die Ukraine als «Marionette des pervertierten Westens» andererseits legitimiert werden. Langfristig, das sieht man aus traurigem aktuellem Anlass, schadet eine solche Politik aber allen.
Lunz sieht denn dringenden Handlungsbedarf, was die Gleichstellung betrifft: «Erst wenn die Machtverhältnisse ausgewogen sind und auch aussenpolitisch genauso viele Frauen aktiv sind wie Männer, werden wir in einer friedlicheren Gesellschaft leben. Die Gleichstellung ist die wichtigste Aufgabe des Feminismus.» Insofern liegt Meryl Streep also durchaus richtig.