Der Sound der Jugend
Der Soundstil der Stunde kommt aus den übelsten Ecken von Chicago und London

Songs von Drill-Rappern sind manchmal so gewaltverherrlichend, dass die Polizei sie verbietet. Trotzdem schafft es der Musikstil an die Spitze der Hitparade.
Publiziert: 06.06.2022 um 15:07 Uhr
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Aktualisiert: 07.06.2022 um 10:44 Uhr
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Luciano gilt als deutscher «King of Drill». Hier bei einem Auftritt an den Hype Awards 2019 in Berlin.
Foto: imago images / Jan Huebner
Jonas Dreyfus

Es ist das typische Video eines auf die Hitparade zugeschnittenen Rapsongs: Luciano (28), Deutsch-Rapper aus Berlin, steht auf der Terrasse einer Villa in den Hollywood Hills von Los Angeles und rappt über eine Frau, die er mag. Das klingt unter anderem so: «Bin gesegnet, weil ich dich kenn. Zieh dich an mich, nur mit einem Blick. Rotwein, Red Roses. Wegen dir ist mein Herz nicht cold.»

«Beautiful Girl», wie der Song heisst, stand gerade vier Wochen auf Platz 1 der Schweizer Singlecharts. Sein Refrain basiert auf dem Sommerhit des Jahres 2007, «Beautiful Girls» von Sean Kingston (32). Das sogenannte Sampeln von süsslichen Pop- und Soulnummern ist typisch für die Musikrichtung, für die Luciano steht: Drill. Zu ihr gehören auch die tiefen Stimmen, grollenden Bassmelodien und das federnde Zischen von synthetischen Zimbelklängen. Es ist ein Sound, der an ein heranziehendes Gewitter erinnert. Ursprünglich hat er rein gar nichts mit Liebesbekundungen zu tun. Drill ist ein Subgenre des Raps und stammt aus den übelsten Ecken amerikanischer und britischer Grossstädte.

Rapsongs oder Todeslisten?

In keinem anderen musikalischen Genre seien Gang-Brutalität und Kunstfreiheit so eng miteinander verwoben, sagt der Reporter eines Dokumentarfilms mit dem Titel: «Drill – Rapsongs oder Todeslisten?» Die Doku des Fernsehsenders Arte geht der Frage nach, wie viel Gewalt im Genre steckt. Die Antwort: Viel. Sehr viel.

Aber von vorne. Bereits Anfang der 2000er-Jahre, also vor mehr als einer Dekade, formiert sich in Chicago, Illinois, eine Musikszene um den damals 16-jährigen Rapper Chief Keef. Es ist die Geburtsstunde von Drill. Woher die Bezeichnung stammt, ist unklar. Drill kann für fast alles stehen, was sich mit automatischen Waffen machen lässt: angreifen, sich verteidigen, jemanden aus einem fahrenden Auto erschiessen. Das passt zu Chicago. Banden im Süden der Metropole sind massgeblich dafür verantwortlich, dass sie eine der höchsten Mordraten aufweist.

Waffen in die Kamera zu halten, gehört dazu

Auch Chief Keef ist Mitglied einer Gang. Seine Songs handeln vom Kleindealerleben auf der Strasse. In den Videos dazu halten er und seine Kumpel Waffen in allen Ausführungen in die Kamera. Dass dieses Gehabe keine Show ist, zeigt sich 2015, als bei einem Mordüberfall auf einen seiner Freunde eine Kugel versehentlich ein 13 Monate altes Kind tödlich trifft. Als Chief Keef ein Wohltätigkeitskonzert für die Angehörigen organisieren will, wirft ihm der Bürgermeister vor, in seinen Texten Gewalt zu fördern, und verbietet den Anlass. Es sind solche Horrorstorys, die dazu führen, dass es der sogenannte Chicago Drill trotz seiner vielen Anhänger nie in die Hitparade schafft. Bevor er das tut, wird sich sein Ruf sogar noch weiter verschlechtern.

Dafür verantwortlich ist die Drill-Szene von London, die den Sound aus Chicago ab der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre für sich zu adaptieren beginnt. Brixton im Süden der britischen Hauptstadt, Hackney oder Bezirke im Osten der Stadt sind Hochburgen des UK Drills. Auch hier spielt das Gang-Milieu eine grosse Rolle. Was bei den Amerikanern Pistolen, sind bei den Briten Messer. Sie halten sie zwar nicht in die Kamera – das wäre in England verboten –, rappen aber mit vermummten Gesichtern und in verschlüsselter Sprache darüber, wie sie die Stichwaffen gegen verfeindete Gangmitglieder einsetzen wollen.

Die Polizei macht Drill für Morde mitverantwortlich

Messergewalt unter Teenagern nimmt in London in Bezirken mit sozial benachteiligter Bevölkerung seit Jahren rasant zu. Die inzwischen zurückgetretene oberste Polizistin Londons, Cressida Dick (61), macht Drill mitverantwortlich. «Die Texte beschreiben Messerstechereien sehr detailliert», sagte sie in einem Fernsehinterview. Auch die sozialen Medien tragen gemäss Dick zur Gewalt bei. Meinungsverschiedenheiten würden verschärft, wenn sie online ausgetragen werden. Zudem trage die Menge an gewalttätigen Inhalten dazu bei, Aggressionen zu normalisieren.

Londons Bürgermeister Sadiq Khan (51) warf in diesem Zusammenhang dem Onlineportal Youtube vor, zu wenig strikt gegen Videos von Drill-Rappern vorzugehen, die Gewalt glorifizieren. Youtube löschte daraufhin mehr als 30 Videos. Die Londoner Metropolitan Police ging noch einen Schritt weiter und verbot einem der erfolgreichsten Drill-Rapper, Digga D (21) und seiner Gruppe 1011-Crew, Musik, Videos und Social-Media-Einträge zu veröffentlichen, ohne sie davor von den Behörden absegnen zu lassen.

Der Fall erinnert an die 1980er-Jahre

Dass die Polizei eine Musikgruppe so extrem zensiert – das gab es in der westlichen Welt so noch nie. Der Fall erinnert an die Versuche des FBI, Ende 1980er-Jahre Veröffentlichungen der Rap-Gruppe N.W.A. zu verbieten, weil sie aus Behördensicht zu Polizeigewalt aufrief. N.W.A. – der Sound der Gruppe gilt als Ursprung des Gangster-Raps – machte künstlerische Freiheit geltend und kam damit durch.

Beim zensierten Drill-Rap aus London funktioniert dieses Argument schlecht – die Textinhalte sind zu nahe an der Realität. In extremen Fällen kündigten Rapper in Songs an, dass ein Rivale bald ermordet werde, was dann tatsächlich geschah. Oder sie verhöhnten das Opfer eines Mords, was wiederum zu direkten Vergeltungsschlägen der Gegenseite führte. «Wir wollen niemandem den Spass verderben», sagte ein Sprecher der Metropolitan Police in einem Interview mit dem Onlineportal «Business Insider» über die Kritik an den Zensurmassnahmen gegen Drill-Rap. «Es ist jedoch unsere Aufgabe, zu verhindern, dass Menschen getötet werden.»

Trotz allem: Der Sound hat Stil

Dass die kriminellen Vertreter des UK Drills so schnell keine grosse Karriere machen, ist naheliegend. Oftmals ist im Gefängnis Endstation. Das ist bedauerlich, denn viele von ihnen sind sehr talentierte Rapper, die gewitzt mit Sprache umgehen können.

Sowieso ist UK Drill aus musikalischer Sicht erfrischend – mal abgesehen davon, dass viele der Songs sehr ähnlich klingen. Aus ihnen hört man den Einfluss der Technoclubs Englands genauso heraus wie das karibische Erbe eines grossen Teils der britischen Bevölkerung. Der Sound verströmt einen so unverbrauchten, jugendlichen Vibe, dass er selbst Rapper aus dem Ursprungsland des Drills, den USA, inspiriert.

Pop Smoke macht Drill gross

Allen voran Pop Smoke , ein Rapper aus dem New Yorker Stadtbezirk Brooklyn. Anfang 2019 beginnt er, Drill-Beats von britischen Produzenten zu übernehmen und macht eine eigene, partytaugliche Version mit einigermassen mehrheitsfähigen Texten daraus. Sein Song «Welcome to the Party» schafft es weit nach oben in den amerikanischen Charts und gilt als erster Mainstream-Hit des Genres. Es verbreitet sich jetzt rasend schnell. In Ländern wie Irland, den Niederlanden, Frankreich und Ghana ist Drill-Rap plötzlich der Sound der Jugend.

Wie immer, wenn etwas authentisch ist, landet es in einer braven Version früher oder später in der Radiohitparade. Inzwischen singt sogar Soulsängerin Alicia Keys (41) zu Drill-Beats. Wie lange sich die Musikrichtung halten kann, hängt nicht zuletzt davon ab, ob ihre Vertreter nicht von der Vergangenheit eingeholt werden. Pop Smoke wurde im Februar 2020 Opfer eines Überfalls. Maskierte Täter erschossen ihn in seiner Wohnung in Los Angeles. Er wurde 20 Jahre alt.

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