«Man darf als Eltern auch Fehler machen»
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Oskar Jenni im Interview:«Man darf als Eltern auch Fehler machen»

Professor für Pädiatrie Oskar Jenni im grossen Interview
«Mir gefällt der Begriff ‹Erziehung› nicht»

Oskar Jenni gilt als Nachfolger von Remo Largo. Wie der kürzlich verstorbene Erziehungspapst plädiert er für Gelassenheit und Vertrauen seitens der Eltern.
Publiziert: 21.11.2020 um 00:41 Uhr
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Aktualisiert: 17.11.2022 um 14:52 Uhr
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Oskar Jenni ist Leiter der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich.
Foto: STEFAN BOHRER
Silvia Tschui

In den Räumlichkeiten der «Stiftung. Für das Kind» im Zürcher Seefeld trifft BLICK den Schweizer Experten für kindliche Entwicklung, der als Remo Largos Nachfolger gilt. Oskar Jenni ist viel beschäftigter Professor für Entwicklungspädiatrie, also für kindliche Entwicklung – und nimmt sich zwei Stunden Zeit für unser Gespräch.

BLICK: Ist es heutzutage anders, Kinder aufzuziehen, als früher?
Oskar Jenni:
Die Erwartungen an das Kind, aber auch an die Eltern, und die Anforderungen, die diese an sich selbst stellen, sind grösser als früher.

Inwiefern?
Vor fünfzig Jahren mussten Kinder zu Hause helfen. Heute ist es umgekehrt, Eltern helfen ihren Kindern, sich in der Welt zurechtzufinden. Und Stress entsteht, weil sie für die Entwicklung ihres Kinds verantwortlich gemacht werden. Wenn es «den Tritt» findet, haben sie es gut gemacht; wenn nicht, sind sie schuld. Dies setzt heutige Eltern unter immensen Druck, verunsichert und überfordert sie bisweilen auch.

Wenn Eltern nicht fürs «Gelingen» des Kinds verantwortlich sind, wer dann?
Ich habe vier Söhne im jungen Erwachsenen- und Teenageralter. Wenn ich zurückschaue, habe ich den Eindruck, dass mein Beitrag zu ihrer Entwicklung und ihrem bisherigen Lebensweg gering war. Eltern sind als Vorbilder wichtig, aber ihr direkter Einfluss ist viel kleiner als angenommen. Wir können viele Faktoren nicht beeinflussen wie das Geschlecht, genetische Anlagen und die Geschwisterkonstellation. Auch viele äussere Bedingungen wie Freundschaften, die das Kind eingeht, oder Beziehungen zu den Lehrpersonen liegen ausserhalb des elterlichen Einflussbereichs.

Also bestimmt in erster Linie das Kind selbst seine Entwicklung?
Das Kind selbst ist der wichtigste «Taktgeber», was den Verlauf und die Geschwindigkeit seiner Entwicklung angeht. Das Beste, was wir tun können, ist, es dabei mit Verständnis und Vertrauen zu begleiten. Denn jedes Kind ist von früh an bestrebt, selbständig zu werden. Kinder sind von Natur aus neugierig, lernbegierig und eigenaktiv, sie suchen mit wachsender Autonomie ihre «eigene Nische», die ihren Neigungen und Interessen möglichst gut entspricht.

Daraus würde ja folgen, dass Eltern gar nicht erziehen müssen?
Mir gefällt der Begriff Erziehung nicht. Kinder brauchen die Eltern als Bezugspersonen, die ihnen Geborgenheit und Sicherheit geben und sie in unsere gesellschaftlichen Konventionen einführen, etwa in die Regeln im Umgang miteinander. Die Eltern können aber die Entwicklung des Kinds nicht beschleunigen. Es entwickelt sich, indem es selbst handelt und mit anderen Menschen interagiert. Es wird nicht schneller laufen lernen, wenn man es in eine Lauflernhilfe steckt. Es wird auch nicht intelligenter, wenn man es ins Früh-Chinesisch schickt. Und es lernt die Sprache nicht besser, wenn man mit ihm Wörter übt.

Professor für Entwicklungspädiatrie Oskar Jenni

Oskar Jenni (53) leitet als Remo Largos Nachfolger seit 2005 die Abteilung für Entwicklungspädiatrie am Universitäts-Kinderspital Zürich und ist Professor für Entwicklungspädiatrie an der Universität Zürich. Zudem leitet er die Zürcher «Akademie. Für das Kind. Giedion Risch». Das Ziel der Akademie ist, in der Gesellschaft mit unterschiedlichen Projekten das Wissen über die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu verankern. Neben Veranstaltungen für die Öffentlichkeit wie dem Vortragszyklus «Kosmos Kind» und einem interdisziplinären Thinktank lanciert die Akademie aktuell einen Zertifikatsstudiengang zum entwicklungsorientierten Unterricht.

STEFAN BOHRER

Oskar Jenni (53) leitet als Remo Largos Nachfolger seit 2005 die Abteilung für Entwicklungspädiatrie am Universitäts-Kinderspital Zürich und ist Professor für Entwicklungspädiatrie an der Universität Zürich. Zudem leitet er die Zürcher «Akademie. Für das Kind. Giedion Risch». Das Ziel der Akademie ist, in der Gesellschaft mit unterschiedlichen Projekten das Wissen über die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu verankern. Neben Veranstaltungen für die Öffentlichkeit wie dem Vortragszyklus «Kosmos Kind» und einem interdisziplinären Thinktank lanciert die Akademie aktuell einen Zertifikatsstudiengang zum entwicklungsorientierten Unterricht.


Es gilt aber doch als erwiesen, dass kleine Kinder, mit denen man mehr spricht und spielt, auch einen grösseren Wortschatz haben.
Es ist richtig, dass Anzahl und Vielfalt der Wörter, die Eltern sprechen, förderlich für die Entwicklung der Sprache sind. Aber es spielt auch eine bedeutende Rolle, wie liebevoll, feinfühlig und interessiert sie am Kind sind. Das Wichtigste ist eben «Be-ziehung», nicht «Er-ziehung».

Viele Eltern fördern wohl auch aus Angst, ihre Kinder könnten den Anschluss verpassen?
Ja, der Leistungsdruck der Gesellschaft ist inzwischen bei den Eltern angekommen. Leider. Und sie geben diesen Druck an die Kinder weiter.

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Eltern wünschen halt für ihre Kinder gute Berufschancen, und eine Matur öffnet alle Wege.
Was heisst denn «gute Berufschancen»? Es gibt keine guten und schlechten Berufe. Wir müssen lernen, dass alle Berufe wichtig sind – unabhängig davon, wie sie entlöhnt werden und welches Prestige sie haben. Es sind nicht nur Ärzte und Anwälte wichtig, sondern auch Pflegende, Verkaufspersonal oder Menschen, die Abfall entsorgen. Die aktuelle Pandemie zeigt dies eindrücklich. Wir sehen in den USA, was passiert, wenn die Bildungselite die Menschen aus der Gesellschaft ausschliesst, die oberflächlich betrachtet keine «gute» Bildung haben.

Jetzt haben Sie aber einen weiten Bogen geschlagen …
In den USA gilt nur noch ein akademischer Werdegang als wertvoll. In der Schweiz haben wir zum Glück das duale Bildungssystem, in der die Lehre einen guten Ruf hat. Ich halte eine überzogene Akademisierung der Gesellschaft für absolut fatal. Kinder sind sehr verschieden. Wir können dies nicht durch eine «gute» Bildung überwinden. Die Vielfalt der Menschen hat einen evolutionsbiologischen Sinn. Sie ist sozusagen eine Garantie für das Überleben des Menschen. Je grösser die Variabilität ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass einige Menschen bei sich verändernden Umweltbedingungen überleben.

Wie können die Eltern am besten auf diese Verschiedenheit reagieren?
Sie sollen erkennen, welche Stärken und Bedürfnisse ihr Kind hat. Förderung ist dann wirksam, wenn das Kind in seinen eigenen Aktivitäten und bei seinen Stärken unterstützt wird. Dann spürt es, dass es etwas bewegen kann, und kann dadurch ein gutes Selbstwertgefühl entwickeln. Jede zukunftsfähige Gesellschaft ist auf eine heranwachsende Generation angewiesen, die diese Eigenschaften hat.

Um auf den Begriff Erziehung zurückzukommen: Warum mögen Sie das Wort nicht?
Weil es das Missverständnis fördert, man könne bei Kindern an etwas «ziehen». Eines von Remo Largos Lieblingszitaten war: «Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.» Erziehung klingt für mich eher negativ – und ich weiss aus meiner langjährigen Erfahrung als Entwicklungspädiater, wie fördernd ein optimistisch gestimmtes Umfeld für ein Kind ist.

Viele Eltern sind unsicher. Nützen Ratgeber weiter?
Nein, die sind selten hilfreich. Jede Familie, jedes Kind und jede Situation ist anders. Ratgeber können die komplexe Realität des Lebens nie genügend abbilden. Eltern müssen sich bewusst sein, dass sie nie perfekt sein können. Wir machen Fehler und sollten damit gelassen umgehen. Kinder, die Vertrauen in sich und ihr Umfeld haben, sind viel widerstandsfähiger, als wir denken.

Aber Ihr Mentor, Remo Largo, hat auch Ratgeber geschrieben.
Eben nicht! Die Bücher «Babyjahre», «Kinderjahre» und «Jugendjahre» zeigen, wie unterschiedlich die Entwicklung von Geburt bis ins Erwachsenenalter verlaufen kann. Remo Largo hat keine Ratgeber geschrieben, sondern Eltern ein Rüstzeug mitgegeben, damit sie selbst Entscheidungen treffen können. Seine Bücher sind sozusagen Hilfe zur Selbsthilfe. Deshalb sind sie auch so beliebt.

Largo war ein grosser Kritiker des Schulsystems. Weshalb eigentlich?
Remo Largo war ein Hüter der kindlichen Vielfalt, die Gleichmacherei in der Schule war ihm ein Graus. Die Einteilung in Jahrgangsklassen, in denen Kinder mit einem individuellen Entwicklungsunterschied von bis zu vier Jahren dieselben Lernziele erreichen sollen, ist für viele Lehrpersonen eine Herkulesaufgabe – und aus meiner Sicht nicht mehr zeitgemäss. Ich möchte aber klarstellen, dass sich viele Lehrpersonen bemühen, der kindlichen Variabilität gerecht zu werden. Mein Wunsch wäre, dass man ihnen mehr Wissen über die kindliche Entwicklung zur Verfügung stellt. Unsere Kinder und die ganze Gesellschaft würden enorm profitieren, wenn Lehrpersonen nicht nur didaktische und methodische Spezialisten, sondern auch Entwicklungsexperten wären.

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