In der Wohnung im Aarauer Zelgli-Quartier, in der Eliane Baertschi (38) mit ihrem Mann und den Kindern Kaya (9) und Miro (11) lebt, hängen normalerweise «nur» Prints mit Bildern von Künstlern wie Ferdinand Hodler, Joan Miró und Edward Hopper. Sie beschäftige sich als Lehrerin für bildnerisches Gestalten zwar beruflich mit Zeichnen und Malerei, sagt Baertschi. «Doch ein Originalkunstwerk zu besitzen, können wir uns nicht leisten.»
Seit kurzem darf sie sich jetzt trotzdem täglich über eines freuen. Es hängt prominent in der Stube: eine Leihgabe aus der Städtischen Kunstsammlung Aarau in Form einer 40 Zentimeter langen und 23 Zentimeter breiten Fotografie der Aarauer Künstlerin Mireille Gros (68) im Wert von 1200 Franken. Sie zeigt eine menschenleere Strassenszene in China, in die Gros mit Bäumen bedruckte Planen aus chinesischem Reispapier stellte. Die Fotografie sieht aus wie nachträglich bearbeitet, obwohl nichts an ihr verändert wurde. «Mich fasziniert diese Technik», sagt Baertschi.
Sie sei immer ein bisschen eifersüchtig auf die Rektorin des Gymnasiums, an dem sie arbeitet, gewesen, die sich für ihr Büro ein Werk aus der städtischen Kunstsammlung aussuchen durften, fügt sie an und lacht. «Dass ich jetzt vorübergehend selbst in den Genuss komme, freut mich sehr.»
Kunst soll nicht nur in Büros und Altersheimen hängen
Genau aus dem Gedanken heraus sei in Aarau das Pilotprojekt des Kunstverleihs entstanden, sagt Lena Friedli vom Forum Schlossplatz, wo Ausschnitte der städtischen Sammlung, die rund 1200 Werke umfasst, in wechselnden Ausstellungen zu sehen sind und teilweise ausgeliehen werden können. «Wir wollen die Kunst nicht nur in Büros und Altersheime hängen, sondern zu den Leuten, die sie mit ihren Steuergeldern indirekt finanzieren, nach Hause bringen.»
Im Rahmen einer Ausstellung, die sich mit dem Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatsphäre auseinandersetzte, konnten Besucher erstmals im September 2021 ein Werk aus einer sogenannten Artothek für eine Gebühr von 20 Franken für ein halbes Jahr ausleihen. Wer davon Gebrauch machte, wurde gebeten, ein Foto für die Website des Forums Schlossplatz zu schiessen vom Werk, wie es zu Hause hängt. Das Angebot werde genutzt, sagt Friedli. Deshalb führt man es weiter und ergänzt es laufend mit neuen Werken aus der städtischen Sammlung, von denen ein grosser Teil im Feuerwehrmagazin lagert.
Wer ein Werk aus der Städtischen Kunstsammlung Aarau ausleiht, unterzeichnet einen Vertrag, in dem er sich verpflichtet, die Leihgabe vor Feuchtigkeit, direktem Sonnenlicht und Heizungswärme zu schützen. Bei einem Schadensfall haften die Leihnehmer. Eine Haftpflichtversicherung zu haben, ist empfehlenswert.
Leute, die etwas von der Materie verstehen
Artotheken im Stil des Forums Schlossplatz gibt es in der Schweiz nur wenige. Die umfassendste mit mehr als hundert Bildern führt die Gemeinde Meggen LU. Sie ist an den Bibliotheksverband Luzern angeschlossen. Jeder, der eine Mitgliederkarte besitzt, kann seit 2010 für 30 Franken ein halbes Jahr eine Malerei, eine Fotografie oder Skulptur ausleihen.
Der grosse Vorteil von Artotheken, die Kunst aus Sammlungen von Städten und Gemeinden im Angebot haben: Die Künstler werden von Gremien ausgewählt, in denen andere Künstler und Kunsthistoriker sitzen. Sprich: Leute, die etwas von der Materie verstehen. Das ist bei privaten Galerien mit Leihangebot nicht immer der Fall.
Beim Kauf wird der Mietpreis angerechnet
In guten Händen sind Kunstinteressierte auch bei DOCK in Basel. Der gemeinnützige Verein vermittelt seit Mai 2020 Werke von Kunstschaffenden aus der Region an Leute, die sie mieten wollen. Je nach Grösse kostet das schon einmal mehr als 3000 Franken pro Jahr. Die Mieter müssen Transport und Formalitäten selbst und in Absprache mit dem Künstler organisieren. Wer das Kunstwerk nach Ablauf der Mietdauer kaufen möchte, dem wird der Mietpreis bis zu einem gewissen Betrag angerechnet.
Im Mai läuft die Leihfrist der Leihgabe von Lehrerin Eliane Baertschi aus dem Aarauer Zelgli-Quartier ab. Würde sie sich das Werk leisten, wenn es zum Verkauf stünde – jetzt, wo sie es so lange bei sich hängen hatte? «Nein», sagt Baertschi, «aber ich werde es sicher vermissen.»