Besuch in der ältesten Glockengiesserei der Schweiz
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Jahrhundertealte Tradition:Besuch in der ältesten Glockengiesserei der Schweiz

Besuch in der ältesten Glockengiesserei der Schweiz in Aarau
Heiliger Bimbam!

Landauf, landab läuten Glocken zum Weihnachtsfest: Auch wenn coronabedingt noch weniger Menschen in die Kirchen gehen, der Klang berührt jeden. Eine kurze Geschichte über Giesser, Geläut und Gerichte.
Publiziert: 21.12.2020 um 12:57 Uhr
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Aktualisiert: 24.12.2020 um 11:45 Uhr
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Pascal Flury (30) von der Rüetschi AG rührt in der flüssigen Bronze.
Foto: Blick / Daniel Kellenberger
Daniel Arnet

Der Bischof kennt nur die Susanna aus Bern. Sie hängt im Turm des dortigen Münsters. Die Fünftklässlerin hingegen weiss alle Namen der vier eingespielten Glockenklänge. «Das ist der Dicke Pitter am Kölner Dom», sagt Annika Fischer (10) aus Frauenfeld TG nach wenigen Sekunden Hörzeit. Oder dann: «Pummerin im Stephansdom in Wien.» Ein Vier-zu-eins-Kantersieg in Kai Pflaumes Fernsehspielshow «Klein gegen Gross».

Einen Monat ist es her, dass Annika Fischer diesen grossen Auftritt hatte. «Ich kenne mich mit Kirchenglocken besser aus als der Bischof von Erfurt, Dr. Ulrich Neymeyr», behauptete sie in der Samstagabend-Kiste – und bekam recht. Obwohl sich Neymeyr (63) akribisch vorbereitet und die 50 Glocken samt Namen und Standort auswendig gelernt hatte, musste sich der Bischof gegen das Mädchen geschlagen geben.

«Süsser die Glocken nie klingen als zu der Weihnachtszeit», singen die Fischers dieser Tage unter dem Christbaum wohl mit besonderer Inbrunst. Und wann tönen sie für René Spielmann (55) am schönsten? «Direkt nach dem Guss, wenn man sie das erste Mal hört», sagt er. Spielmann ist Geschäftsführer der H. Rüetschi AG in Aarau, der ältesten Glockengiesserei der Schweiz. Seit 1367 stellt man am Südrand der Altstadt Glocken her.

Kirchenglocken zu Kanonen statt Schwerter zu Pflugscharen

In der über 650-jährigen Firmengeschichte hat Rüetschi Tausende Kirchenglocken produziert. Allein in der Zeit zwischen 1950 und 2000 habe man «dem Teufel ein Ohr ab» produziert, so Spielmann – 5000 Stück, ein Viertel aller Glocken in der Schweiz. Das hat viel mit der Zuwanderung italienischer, spanischer und portugiesischer Gastarbeiter sowie mit der Abwanderung der katholischen Landbevölkerung in die Städte zu tun – neue Kirchgemeinden entstanden, neue Gotteshäuser mussten her.

In Deutschland erklärt sich der gestiegene Glockenbedarf der Nachkriegszeit mit den zerstörten Kirchen. Und selbst dort, wo die Türme noch standen, fehlte meist das Geläut: Man schätzt, dass Nazi-Deutschland während des Zweiten Weltkriegs von den 60'000 historischen Glocken 45'000 einschmolz und daraus Kriegsmaterial produzierte – Kirchenglocken zu Kanonen statt Schwerter zu Pflugscharen.

«Glocken und Geschütze, das ungleiche Paar verbindet dasselbe Ausgangsmaterial: die aus Kupfer und Zinn hergestellte Bronzelegierung», heisst es im Rüetschi-Firmenbuch zum 650-Jahr-Jubiläum. «Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein werden bronzene Geschützrohre weltweit die Schlachtfelder und Befestigungsanlagen prägen.» Und Rüetschi mischt mit: «Den Aargauer Glockengiessern erschliesst sich damit neben den Pfarrern, Äbten und Domherren ein neuer Abnehmerkreis.»

«Kirchen / Kunst / Architektur, Design, Industrie / öffentliche Bauten»: So umschreibt die H. Rüetschi AG ihre heutigen Geschäftsfelder im Internet. «Wir sind und bleiben eine Giesserei», sagt Geschäftsführer Spielmann, «eine Giesserei, die breit aufgestellt ist.» Seit er 2000 im Betrieb ist und das Zepter von seinem Vater übernommen hat, will er das Unternehmen in die Zukunft führen – weg von Schillers Giesser-Verklärung im Gedicht «Das Lied von der Glocke», hin zu Engineering und Automatisation. Schliesslich hat Vorgänger Hermann Rüetschi (1855–1917) bereits 1906 mit einer patentierten Maschine die Ära des motorisierten Glockenantriebs eingeläutet.

China kennt Glocken seit 3000 vor Christus

Für einen Moment ist in der Aarauer Giesserei-Werkstatt das Rad der Zeit in die Vergangenheit zurückgedreht: Pascal Flury (30) rührt im gleissenden Kupfer-Zinn-Gemisch. Es ist heiss, es ist laut. Ein Kollege misst mit einem Spezialthermometer die Temperatur: 1060 Grad Celsius muss die Bronzelegierung haben. «Frisch, Gesellen, seid zur Hand. / Von der Stirne heiss / Rinnen muss der Schweiss, / Soll das Werk den Meister loben», dichtete Friedrich Schiller (1759–1805) im Jahre 1799.

Damals goss man in Aarau schon über 400 Jahre Glocken, in China allerdings schon seit Jahrtausenden – das Reich der Mitte gilt als Ursprungsland der Glocken. Der chinesische Philosoph Lü Buwei (291–235 v. Chr.) berichtet vom mythischen Gelben Kaiser Huangdi, der im 3. Jahrtausend v. Chr. befohlen habe, «zwölf Glocken zu giessen, die die harmonischen fünf Töne der Tonleiter ergeben, um eine herrliche Musik aufzuführen». Die ältesten gefundenen Glocken sind in der Provinz Henan ausgegrabene Tongefässe – neun Zentimeter hoch, fünf Zentimeter im Durchmesser – aus der Zeit um 3000 v. Chr.

Nicht viel grösser sind die schmiedeeisernen Handglocken, die keltische Missionare im 5. bis 9. Jahrhundert mit sich führen und in Europa verbreiten. Mit den anschliessenden Klostergründungen kommt das sakrale Geläut im Gebäude auf: Das heilige Bimbam begründet den Beruf des Glockengiessers und macht ihn im Mittelalter populär. Die älteste noch läutende Kirchenglocke ist wohl die 1038 aus einer Tonne Bronze gegossene Lullusglocke im Katharinenturm der Stiftsruine Bad Hersfeld (D).

Das Verfahren ist bis heute dasselbe: Mit Backsteinen baut der Giesser einen Kern und überzieht ihn mit Lehm; über den Kern zieht er eine weitere Lehmschicht mit Schriftzeichen und Verzierungen – die Falsche Glocke; darüber kommt ein Mantel aus Lehm; nach dem Austrocknen hebt er den Mantel ab und zerschlägt die Falsche Glocke; der Mantel kommt wieder über den Kern; und weil nun die Falsche Glocke fehlt, entsteht ein Hohlraum – in den leert der Giesser die flüssige Bronze.

Vier neue Glocken für Dietlikon gegossen

«Körperlich ist das Giessen eine sehr grobe Tätigkeit», sagt Pascal Flury, «gleichzeitig aber die sehr feine Arbeit eines Chirurgen.» Das hat seinen Preis: Pro Kilo Glocke muss man mit rund 25 Franken rechnen – das geht schnell in die Tausende. Heute giesst Flury keine Glocke, sondern Brunnenrohre für eine Wasserskulptur im öffentlichen Raum. Denn nach seinem Kunststudium an der Hochschule Luzern ist er seit zweieinhalb Jahren Projektleiter für die Umsetzung von Kunst bei der H. Rüetschi AG.

Zuletzt goss man hier im Juni dieses Jahres ein vierstimmiges Geläut für den neu erbauten, 18 Meter hohen Turm der römisch-katholischen Kirche St. Michael in Dietlikon ZH. Anfang Juli bot sich dann den Bewohnern, deren Gemeinde von modernen Einkaufszentren geprägt ist, ein nostalgisches Bild: Pferde zogen die festlich geschmückten Bronzewerke von 210 bis 900 Kilogramm auf einem offenen Fuhrwerk vor die Kirche, wo Hunderte dem feierlichen Glockenaufzug beiwohnten.

Eine seltene Ansammlung in der Schweiz, wo immer mehr Menschen ihren Kirchenaustritt geben: Erst im November vermeldeten die Katholiken für 2019 mit 31'772 Personen den höchsten je verzeichneten Rückgang; die Reformierten zählten letztes Jahr 26'198 Schäfchen weniger. Die verwaisten Kirchen, Kapellen und Klöster führt man vermehrt anderen Zwecken zu: Gegen 200 Umnutzungen sind es schweizweit in den letzten 25 Jahren, Tendenz steigend.

Die evangelisch-reformierte St.-Markus-Kirche hinter dem Badischen Bahnhof in Basel soll 2022 gar abgerissen werden und einer Wohnsiedlung weichen. Ihre vier Glocken sind bereits am Boden und lagern seit kurzem stumm auf dem Rüetschi-Werksgelände. Nach einer Restauration durch die Aarauer soll das Geläut in Bettingen BS eine neue Heimat finden – natürlich wieder mit einem feierlichen Aufzug samt Ross und Wagen.

«Eine Glocke ist wie eine Klaviersaite»

22.15 Uhr in der Freiburger Altstadt: Von der St.-Niklaus-Kathedrale erschallt die Barbara-Glocke mit dem warmen es-Schlagton über den Hausdächern. Sie entstand 1367, im Gründungsjahr der Aarauer Werkstatt, gegossen von Walter Reber. Ursprünglich für die Pfarrkirche in Romont FR hergestellt, gelangte sie 1476 als Kriegsbeute aus den Burgunderkriegen nach Freiburg und ertönte seit Pfingsten 1477 allabendlich vom 74 Meter hohen Turm.

«Es ist das Geläut, das wir in der Schweiz am besten kennen», sagt René Spielmann von der H. Rüetschi AG. «Wir konnten es zwischen 2009 und 2014 umfassend restaurieren und wissenschaftliche Bestandesaufnahmen über Klang und Abnützung machen.» Spielmann glaubt nicht, dass die Barbara-Glocke Walter Rebers erstes Werk war: Eine solche über zwei Tonnen schwere Bronzearbeit schüttle man nicht so einfach aus dem Ärmel.

«Eine Glocke ist eigentlich nichts anderes als eine Klaviersaite», sagt Spielmann. Doch wenn man vom Piano spreche, rede man nicht vom einzelnen Bestandteil – das sei beim Kirchturmbau nicht anders: «Man schaut mit allen Beteiligten, wie dieses Musikinstrument aufgebaut werden muss – da gehört der Turm dazu, die Fensteröffnung, die Belastbarkeit, aber auch der Klöppel und heute die Gebäudeautomatisation.» Firmendokumente seit 1820 zeigen, dass das Unternehmen Rüetschi immer schon eng mit Architekten zusammengearbeitet hat.

«Im 19. und Anfang 20. Jahrhundert nahm der Glockengiesser sehr viel Einfluss auf die Turmgestaltung», sagt Spielmann. «Ab der Bauhaus-Zeit wollte der Architekt immer mehr die Technik zeigen.» Die Folge: Man konzipierte offene Glockentürme. Waren die zu Beginn noch 35 Meter hoch, schrumpften sie auf zehn Meter runter, wodurch der Klang immer näher zu den Menschen kam – Lärmklagen folgten.

Bundesgericht hält am Viertelstundenschlag fest

«Ungefragter traditioneller Weckdienst» steht auf der Website Laerm.ch: Trotz steigendem Geräuschpegel durch Flug-, Zug- und Autoverkehr in den letzten Jahrzehnten sind Kirchenglocken vergleichsweise häufig Gegenstand von Lärmklagen. In vielen Gemeinden ertönt deshalb das morgendliche Angelusläuten um 7 statt um 6 Uhr, mancherorts verzichtet man nachts auf den Viertelstunden- und Stundenschlag.

Das Bundesgericht in Lausanne kommt aber 2017 bezüglich einer Lärmklage aus Wädenswil ZH gegen die reformierte Kirche zu einem gegensätzlichen Grundsatzurteil: Die Viertelstundenschläge auszusetzen, sei «angesichts der beschränkten Wirkung in Bezug auf den Lärmschutz und dem in Wädenswil fest verwurzelten nächtlichen Glockenschlag nicht gerechtfertigt».

«Früher sagte man: alte Kultur, neue Gesellschaft – das widerspricht sich», sagt Spielmann. Heute versuche man die Leute einzubinden und den Glockenklang zu optimieren. Dafür arbeitet die H. Rüetschi AG seit Jahren mit dem Europäischen Kompetenzzentrum für Glocken (ECC-ProBell) an der Hochschule in Kempten (D) zusammen. Denn mit einer sauberen Restauration lässt sich ein besserer Klang sowie eine Schallreduktion für die Anwohner erreichen.

«Mit dieser Methodik, die wir in den letzten 15 Jahren aufgebaut haben, kann man die Bedürfnisse der heutigen Gesellschaft befriedigen», sagt Spielmann. Und dass zu diesen Bedürfnissen auch das Kirchenglockengeläut gehört, zeigte sich im Oktober, als SRF die Absetzung der religiösen Radiosendung «Zwischenhalt» beschloss, in der jeweils zum Abschluss «Glocken der Heimat» zu hören sind – Geläut aus jeweils einer Kirchgemeinde der Schweiz.

Gegen 100'000 Menschen sitzen dafür samstags vor dem Radio, was einem Marktanteil von fast 25 Prozent entspricht. Nun bleibt die jahrzehntealte Kultsendung «Glocken der Heimat» kurz vor 19 Uhr im Programm von SRF 1 und um 17.20 Uhr auf SRF-Musikwelle – damit wir das Gehör weiter schulen können und die Kirchen dereinst so gut am Geläut erkennen können wie die zehnjährige Annika Fischer aus Frauenfeld.

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