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Keuschheits-Fetisch
Wieso das Christentum die Jungfräulichkeit verehrt

Was die «Jungfrau» Maria mit Internet-Pornografie, plastischer Chirurgie und unserer Sexualität zu tun hat.
Publiziert: 21.12.2019 um 15:55 Uhr
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Aktualisiert: 18.12.2020 um 15:15 Uhr
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Madonne in der Postmoderne: Über 2000 Jahre alte Jungfräulichkeits-Verehrung mit Neon-Schein.
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Silvia Tschui

Wir feiern an Weihnachten die Geburt von Gottes Sohn – und Gottes Sohn, so sagt ein christliches Dogma, ist ein solcher, weil seine Mutter Maria nie Geschlechtsverkehr hatte, ihr Kind von Gott in Form des heiligen Geistes empfangen hat und also ihr Leben lang Jungfrau geblieben ist – selbst nach der Geburt.

Nur kurz zur Erinnerung: In der Bibel steht das beim alttestamentarischen Jesaia 7,14 folgendermassen: «Darum wird der Herr selbst euch ein Zeichen geben: Siehe, die Jungfrau wird schwanger werden und einen Sohn gebären …» Auch beim neutestamentarischen Matthäus 1,23 und im Lukasevangelium 1,26ff ist von der Jungfräulichkeit Marias die Rede, also – deutlich ausgedeutscht – davon, dass sie nie Sex mit Josef hatte.

Stellt sich die Frage: Weshalb setzt sich in einer Gesellschaft eigentlich ausgerechnet ein Schöpfungsmythos durch, der Frauen (und zu einem geringeren Grad auch Männer) nur dann als «rein» erklärt, wenn sie nie sexuell aktiv waren? Denn Schöpfungsmythen gibt es viele, nur schon in der Götterwelt der Antike: Da wird Zeus zum Goldregen, regnet auf Danae herunter und zeugt so Perseus. Ziemlich irr auch die Empfängnis der Schönheitsgöttin Aphrodite. Deren Bruder Kronos hieb – aus Gründen, die hier den Rahmen sprengen – seinem eigenen Vater die Genitalien ab und schmiss sie ins Meer. Aus Meeresschaum, Sperma und Blut entstand daraufhin Aphrodite, auch die «Schaumgeborene» genannt. Schöpfungsmythen mit Gewalt, Blut, Sex & Crime – und einer gehörigen Portion Magie.

Die «Jungfrau» Maria hätte auch die «junge Frau» Maria sein können

Was sich aber in der abendländischen Gesellschaft seit rund 2000 Jahren durchgesetzt hat, ist eigentlich das Gegenteil davon: ziemlich lustfeindlich, frauenfeindlich und mit tiefgreifenden Auswirkungen auf unsere Gesellschaft. Asexuelle Empfängnis statt Gold, Blut, Regen und Schaum. Gleich vorneweg: Die Frage nach dem Warum ist selbst nach intensiver Recherche nicht einfach zu beantworten. Aber ein Gespräch mit dem Religionswissenschaftler Christoph Uehlinger, Professor für Allgemeine Religionsgeschichte und Religionswissenschaft an der Universität Zürich, bringt zumindest ein Streiflicht ins Dunkel.

Zunächst etwas nüchterne Altertumsforschung: Der Begriff der «Jungfräulichkeit» Marias etabliert sich erst langsam nach Jesu Geburt. Im alttestamentarischen Jesaja-Text, der die Geburt eines «Königs» voraussagt, steht das hebräische Wort «Alma». Es bedeutet schlicht «junge Frau», nicht «Jungfrau» in dem Sinne, als die besagte Frau ohne Sex schwanger werden konnte. Noch in vorchristlicher Zeit wurde der Text aus dem Hebräischen ins Griechische übersetzt. Das griechische Wort – «Parthenos» – meint nun eindeutiger eine «Jungfrau». Daran schliesst die neutestamentliche Anwendungdes Jesaja-Zitats auf Maria und Jesus an, wiederum auf Griechisch.

Mit wem soll ein alleiniger Gott denn schon Sex haben?

Neben diesem Übersetzungswandel sind drei andere Voraussetzungen wichtig, dass sich das Ideal einer Jungfräulichkeit durchsetzen konnte. Erstens: «Gesellschaften, welche die monotheistische Idee eines alleinigen Gottes erfinden, so das Judentum, das Christentum und der Islam, neigen dazu, diese Gottheit mit keiner oder wenig sexueller Aktivität zu verknüpfen», sagt Uehlinger. «Erst recht, wenn sie ihn transzendent, also unweltlich, denken.» Gesellschaften und Ideologien neigen aber dazu, ihrem Herrscher eine göttliche Abstammung anzudichten. Das stellt natürlich bei einem alleinigen Gott ein Problem dar: Mit wem soll der auch Sex haben? Es kommt eigentlich nur eine magische Art Fortpflanzung in Frage, zudem mit einer in ebenfalls magischer Weise aussergewöhnlichen Frau. Da ist man relativ bald bei einem heiligen Geist, der asexuell jemand Unberührtes schwängern kann.

Zweitens: «Im Mittelmeerraum», sagt Uehlinger, «hat schon vor mehr als 2000 Jahren das Eherecht eine grosse Rolle gespielt – zur Besitzstandswahrung.» Männer hatten schlicht Angst, ein Kuckuckskind aufziehen zu müssen, denn die Vaterschaft ist ja erst seit kurzem in der Geschichte der Menschheit mit der Entwicklung von DNA-Tests einwandfrei bestimmbar. Klar, dass deshalb religiöse und kulturelle Ideen, welche die Sexualität von Frauen beschneiden, für Jahrtausende auf fruchtbaren Boden fielen und diverse Gesetze die Sexualität, insbesondere die weibliche, strikten Regeln unterwerfen. Darunter die, dass junge Mädchen bei der Verheiratung jungfräulich sein müssen.

Drittens kommt die deutsche Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun in ihrem Buch «Blutsbande – Verwandtschaft als Kulturgeschichte» zu folgendem Schluss: Dass die Vaterschaft nicht ganz eindeutig zu belegen gewesen sei, biete Spielraum, um sogenannte «genealogische Fiktionen», also Abstammungsmärchen, zu entwickeln, welche einem Herrscher göttliche Herkunft bezeugen. So soll etwa Alexander der Grosse gemäss seiner Geburtslegende direkt von Zeus abstammen. «Im Fall des christlichen Gottessohns», sagt Uehlinger, «mag auch die ägyptische Theorie mitgespielt haben, wonach der Pharao, gleichsam Gott unter den Menschen, vom höchsten der Götter gezeugt und adoptiert worden sei.»

Religionswissenschaftler Uehlinger fügt einen weiteren Punkt hinzu: «Ein philosophisches Gotteskonzept, das die Gottheit ohne Körper denkt und von körperlichen Bedürfnissen freihält, wirkt auch auf die Vorstellung idealisierter Menschen zurück – insbesondere solcher Menschen, die dieser Gottheit besonders nahekommen und mit ihr kommunizieren sollen. Im christlichen Mönchtum wird der begierdelose Körper zum Ideal». Dasselbe gilt natürlich für Nonnen. Und im Umkehrschluss wird Begierde zur Sünde.

Gleichzeitig muss ein patriarchalisch geprägter Mann eine Frau aber möglichst sicher an sich binden, um seine genetische Nachfolge zu regeln – ein Widerspruch, der erklärt, wie es dazu kommen kann, dass Frauenkörper gleichzeitig begehrt, aber auch abgelehnt und idealisiert werden und nur dann als besonders rein und begehrenswert gelten, wenn da sozusagen noch kein anderer dran war.

Seltsame Blüten des Kults: Keuschheitsringe, Hymenvermessungen und Schlampen

Um den messbaren Beweis dieser «Jungfräulichkeit» hat sich ebenso ein Kult gebildet wie um die sagenumwobene Jungfräulichkeit selbst: Das Hymen respektive Jungfernhäutchen soll in diversen christlich – aber auch muslimisch – geprägten Kulturen aufzeigen, ob die betreffende Frau auch wirklich «keusch» ist. US-Rapper T.I. etwa löste vor einigen Wochen einen mittleren Skandal aus, als er öffentlich sagte, er begleite seine 19-jährige Tochter einmal im Jahr zum Frauenarzt, um zu checken, ob das mythenumwobene Häutchen noch intakt sei. In den USA sind in gewissen Staaten sogar sogenannte Keuschheitsringe populär – Ringe, die Teenager tragen, um damit offensichtlich zu zeigen, dass sie bis zur Hochzeit «rein» bleiben wollen. Sie heissen auf Englisch denn auch «purity rings».

Als anderes Extrem werden Frauen, wenn sie sexuell aktiv sind, übermässig oft als Schlampen (oder englisch «sluts») bezeichnet, sodass es für den Begriff «slut-shaming», also die Beschimpfung von Frauen, die es wagen, sexuell aktiv zu sein, bereits Wikipedia-Einträge in zehn Sprachen gibt. Gibt man auf der beliebten Porno-Webseite das Stichwort «slut» ein, erscheinen knapp 82'500 Resultate. Für Frauen gibts aber Trost: Nicht alle suchen nach Pornografie, welche Frauen beleidigt. Der Begriff «romantic» ist einer der meistgesuchten Begriffe überhaupt und liefert über 100'000 Resultate. Und es gilt auch zu bedenken, dass auch manche Männer an der vom christlichen Ideal verordneten Keuschheit leiden – während dieses Ideal asexuellen Menschen sogar Luft verschafft. Trotzdem: Wie viel unsägliches Leid das von der Kirche verordnete Zölibat der Priester vielen Kindern gebracht hat, öffnet nochmals eine ganz neue Kammer in der Büchse der Pandora.

Wir feiern an Weihnachten – neben ganz vielen anderen Dingen – also auch ein körperfeindliches Dogma, welches Frauen, Männern und Kindern in 2000 Jahren viel Leid gebracht hat. Darüber könnte man in der «Stillen Nacht» auch einmal nachdenken. Und auch darüber, wie menschlich ein Jungfräulichkeitskult für Männer und Frauen und unsere Gesellschaft im Allgemeinen eigentlich ist.

Die Sache mit dem Jungfernhäutchen

Aus medizinischer Sicht gibt es keinen Beweis dafür, dass eine Frau noch keinen Geschlechtsverkehr hatte. «Das Hymen ist keine zugewachsene Haut, welche die Vagina verschliesst – sonst könnten Mädchen ja nicht menstruieren», sagt Anja Wüest, Oberärztin Gynäkologie der Frauenklinik, Inselspital Bern. Vielmehr handelt es sich beim sogenannten Jungfernhäutchen um eine Hautfalte, welche das äussere Genital vom inneren abgrenzt.

«Eine Blickdiagnose, ob Geschlechtsverkehr stattgefunden hat oder nicht, gibt es nicht, auch nicht bei sexuellem Missbrauch», sagt Wüest. Eine junge Frau blute auch beim ersten Geschlechtsverkehr nicht zwangsläufig. Beides liege daran, dass diese Hautfalte bei Geschlechtsverkehr nicht reissen muss, sondern sich oft nur schlicht etwas dehnt – und gegebenenfalls kleinste Einrisse auch schnell wieder zuheilen. Erst bei regelmässiger sexueller Aktivität über längere Zeit bleibt diese Dehnung so, dass eine Gynäkologin mit relativer Sicherheit sagen kann, ob jemand sexuell aktiv ist oder nicht.

Trotzdem hat sich der Mythos des «intakten Jungfernhäutchens» hartnäckig gehalten. So sehr, dass damit sogar Geld zu machen ist: Da in einigen Kulturen die Jungfräulichkeit einer Braut durch Blut auf dem Bettlaken nach der ersten Nacht mit dem Bräutigam bewiesen werden muss, bieten diverse gynäkologische Kliniken sogenannte Hymenalrekonstruktionen an – also die operative Verdickung von Teilen des Hymens oder der Scheide, um bei Geschlechtsverkehr möglichst eine Verletzung, also Blutung auszulösen.

Aus medizinischer Sicht gibt es keinen Beweis dafür, dass eine Frau noch keinen Geschlechtsverkehr hatte. «Das Hymen ist keine zugewachsene Haut, welche die Vagina verschliesst – sonst könnten Mädchen ja nicht menstruieren», sagt Anja Wüest, Oberärztin Gynäkologie der Frauenklinik, Inselspital Bern. Vielmehr handelt es sich beim sogenannten Jungfernhäutchen um eine Hautfalte, welche das äussere Genital vom inneren abgrenzt.

«Eine Blickdiagnose, ob Geschlechtsverkehr stattgefunden hat oder nicht, gibt es nicht, auch nicht bei sexuellem Missbrauch», sagt Wüest. Eine junge Frau blute auch beim ersten Geschlechtsverkehr nicht zwangsläufig. Beides liege daran, dass diese Hautfalte bei Geschlechtsverkehr nicht reissen muss, sondern sich oft nur schlicht etwas dehnt – und gegebenenfalls kleinste Einrisse auch schnell wieder zuheilen. Erst bei regelmässiger sexueller Aktivität über längere Zeit bleibt diese Dehnung so, dass eine Gynäkologin mit relativer Sicherheit sagen kann, ob jemand sexuell aktiv ist oder nicht.

Trotzdem hat sich der Mythos des «intakten Jungfernhäutchens» hartnäckig gehalten. So sehr, dass damit sogar Geld zu machen ist: Da in einigen Kulturen die Jungfräulichkeit einer Braut durch Blut auf dem Bettlaken nach der ersten Nacht mit dem Bräutigam bewiesen werden muss, bieten diverse gynäkologische Kliniken sogenannte Hymenalrekonstruktionen an – also die operative Verdickung von Teilen des Hymens oder der Scheide, um bei Geschlechtsverkehr möglichst eine Verletzung, also Blutung auszulösen.

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