Woran man ein Hochstudhaus, das traditionell schweizerische Bauernhaus, von weitem erkennt? An seinem überproportional grossen Dach. Unter diesem Dach ist auch in Subingen SO viel Platz – und den braucht es auch. Gleich vier Generationen derselben Familie wohnen dort.
Das Mehrgenerationen-Wohnen hat heute in der Schweiz Seltenheitswert. Früher brauchte es solche Grossfamilien, um Kinder grossziehen zu können. Doch sobald wir heute alt genug, ausgelernt oder -studiert sind, streben wir nach Unabhängigkeit und ziehen aus. So die Regel.
Im Bauernhaus in Subingen wohnt die Ausnahme: Familie Wyss. Das heisst: die Urgrosseltern Wyss, die Grosseltern Wyss und die Eltern Wyss mitsamt ihren kleinen Kindern. Die Jüngste ist fünf Monate, der Älteste 96 Jahre alt. Mit zunehmendem Alter noch bei den Eltern zu wohnen, gilt hierzulande als verpönt, Muttersöhnchen gar als Schimpfwort. Aber wieso eigentlich? Das generationenübergreifende Wohnen könnte so einige Probleme der heutigen Gesellschaft wie Überlastung bei Elternschaft oder Einsamkeit im Alter entschärfen.
Je nach Altersstufe mögen die acht Familienmitglieder des Hochstudhauses zwar verschiedene Bedürfnisse haben. Im Gegenzug bringen sie aber auch verschiedene Dinge ins Familienleben ein. So werden bei den frischgebackenen Eltern Corinna (37) und Pradeep (33) oft Zeit und Energie knapp. Dafür sorgen sie mit ihren beiden kleinen Töchtern Anna (2) und Leni (5 Monate) für Leben im Haus. Die Urgrosseltern und Grosseltern wiederum haben mehr Zeit für Kinderbetreuung, Haushalt und Garten – und freuen sich dafür über die Gesellschaft.
Von sechs auf acht Hausbewohner
Corinna und Pradeep wohnen erst seit letztem Frühling im Bauernhaus. «Vorher hatten wir eine Wohnung mitten in Basel», sagt Corinna. «Doch mit einem Kleinkind und in Erwartung eines zweiten haben wir gemerkt, dass wir gern mehr Platz und einen Garten hätten.» Und nun wohnen auch sie unter den 300-jährigen Holzbalken, die das Dach stützen. Die Urgrosseltern Marta (94) und Paul (96) haben angeboten, in die kleinste der drei Wohnungen des Hauses zu ziehen, um für Corinna und Pradeep Platz zu machen. «Das war doch selbstverständlich», sagt Urgrossmutter Marta. «Schliesslich brauchen wir ja nicht mehr so viele Zimmer.»
Das war früher anders: Marta und Paul haben sechs Kinder, 17 Grosskinder und 20 Urgrosskinder. «Manchmal bringe ich die vielen Namen etwas durcheinander», lacht Marta. Im Dachstock über ihrer neuen Wohnung zimmert ihnen ihr Sohn Bernhard (63) gerade ein neues Wohnzimmer. «In diesem Haus gibt es immer etwas zu tun», sagt er. Das Handwerk hat er von seinem Vater Paul gelernt. «Manchmal geben wir uns gegenseitig Ratschläge», sagt Bernhard. «Aber unsere Bauprojekte müssen wir immer strikt trennen, sonst meint jeder, es besser zu wissen.»
Kuhglocken und Curryduft
Die alten Holzdielen knarren bei jedem Schritt. «Hier weiss man immer Bescheid, wer gerade was tut», sagt Ambuja (57), Ehefrau von Bernhard und Grossmutter des Hauses. Zum Mittagessen versammelt sich die Familie gerade um den langen Esstisch im Erdgeschoss – dort, wo die Grosseltern wohnen. Doch sie essen nicht jeden Tag zusammen, sagt Ambuja, die gekocht hat. «Manchmal bleiben wir auch alle in unseren eigenen Wohnungen und bringen uns danach einfach ein Stück Kuchen vorbei.»
Im Bauernhaus stehen Kuhglocken neben Buddha-Statuen, der Duft von frisch gekochtem Curry erfüllt nicht nur das Erdgeschoss. «Wir riechen bei uns oben immer, wenn Ambuja gerade wieder etwas Leckeres gezaubert hat», sagt Urgrossmutter Marta. Vor 40 Jahren lernten sich Ambuja und Bernhard in Indien kennen. Bernhards Eltern kamen mehrmals zu Besuch. In Zeiten ohne Smartphone von einem Solothurner Dorf mitten in die indische Grossstadt Bangalore katapultiert zu werden, nahmen sie gelassen. «Es lag uns halt am Herzen, die Heimat von Ambuja kennenzulernen. Wir brauchten dort nicht einmal einen Stadtplan», versichert Urgrossvater Paul.
Doch wie ist es umgekehrt, vom Stadtrummel aufs Land zu kommen? Für Corinna und Pradeep bisher eine schöne Erfahrung. «Diesen Sommer haben wir hier einen Kindergeburtstag gefeiert», erzählt Corinna. «Es war schön, zu sehen, wie die Kinder sich in dem weitläufigen Garten austoben und spielen konnten.» Etwas Vergleichbares könne man sich in der Stadt niemals leisten. Denn neben der zusätzlichen Betreuung und Gesellschaft sind auch die geteilten Lebenskosten ein Pluspunkt des generationenübergreifenden Wohnens.
«Das ist unser Altersheim»
Um den Garten kümmert sich Urgrossvater Paul auch mit seinen 96 Jahren noch liebevoll. Künstlerisch geschnittene, einem Irrgarten gleichende Hecken lassen Fussgänger bewundernd anhalten. «Im Frühling und Sommer ist es hier besonders schön, wenn die Blumen blühen», sagt Ambuja. Im Moment blüht nur noch eine Pflanze, weisse Chrysanthemen. Pauls Lieblingsblume. Manchmal werde er von seiner Frau Marta gebeten, ihr doch ein Blümlein mitzubringen. Aber sobald es kälter werde, bringe er auch die Chrysanthemen zum Überwintern in den Keller. «Denn wenn man gut auf sie acht gibt, halten sie ewig.» Die beiden sind seit 73 Jahren verheiratet.
Am Rand des Gartens steht ein Spycher. «Das ist unser Altersheim», sagt Paul und lacht. Er sitzt oft auf der Bank vor der Hütte, seinem Rückzugsort, manchmal mit Marta, manchmal allein. Dann denke er nach und schaue einfach nur. In den Garten, auf die Strasse, zu seinen spielenden Urenkeln. «Was soll ich denn in der Beiz, wenn es hier so schön ist?», fragt er. Das Hochstudhaus und sein Garten sind der Blickfang des Dorfs. Ein Autofahrer bremst ab, um einen Blick darauf werden zu können. Dass etwas Altes so schön und gemütlich sein kann, scheint fast in Vergessenheit geraten zu sein.