Ist dieser Mensch arbeitsfähig oder hat er Anspruch auf Invalidenrente? Diese Frage entscheidet über das Schicksal eines ganzen Lebens. Für medizinische Gutachter ist sie Teil des beruflichen Alltags. Für manche ein gutes Geschäft.
Zu den grossen Playern der Branche gehört der Zürcher Neurologe Henning Mast. Bei seiner Firma PMEDA haben die Schweizer IV-Stellen in den Jahren 2013 bis 2018 Gutachten für über 14 Millionen Franken in Auftrag gegeben. Diese Zahl resultiert aus der Aufstellung des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV).
Masts Firma bietet Krankenkassen, Rechtsanwälten und IV-Stellen medizinische Abklärungen in 20 Disziplinen an, darunter Rheumatologie, Onkologie oder Kardiologie. Mast erstellt auch selbst Gutachten.
Seit einigen Wochen ist Mast allerdings ein wenig zurückgebunden.
Am 3. Oktober flattert den kantonalen IV-Stellen ein Schreiben ins Haus. Absender ist der Bund, genauer das BSV. Laut Betreff geht es um die «fachliche Qualifikation von Herrn Dr. med. Henning Mast». Der Arzt sei ab sofort nicht mehr für die Durchführung neuropsychologischer Gutachten zugelassen.
Unterzeichnet ist der Rundbrief von BSV-Vize Stefan Ritler. Er liegt SonntagsBlick vor.
Der Bund ergriff diese Massnahme nicht von sich aus: Die Verwaltung sah sich zu diesem Schritt gezwungen. Anlass ist ein Urteil des St. Galler Versicherungsgerichts vom 5. September, das für Mast ungünstig erscheint.
«Lediglich sekundäres Grundwissen»
Eine Frau, die seit einem Verkehrsunfall mit Verdacht auf traumatische Hirnverletzung an Schmerzen im ganzen Körper leidet, hätte im Rahmen einer sogenannten polydisziplinären Abklärung auch von Mast untersucht werden sollen. Die Zuteilung erfolgte nach dem Zufallsprinzip. Doch die Patientin reichte Beschwerde ein: Neurologe Mast verfüge nicht über die Fachkompetenz, um neuropsychologische Gutachten zu erstellen.
Das Gericht gab der Frau recht. Das Urteil der drei Richterinnen könnte kaum deutlicher sein: Es sei «nicht erkennbar», dass Mast «über spezifische psychologische Aus- bzw. Weiterbildungen oder eine spezifische Qualifikation im Umgang mit psychometrischen Verfahren verfügt». Stattdessen besitze Mast «lediglich sekundäres Grundwissen über psychologische Testverfahren», und zwar als Bestandteil «der inzwischen 30 Jahre zurückliegenden Weiterbildung». Mast sehe sich «primär aufgrund seiner Person und weniger aufgrund seiner Aus- und Weiterbildung für neuropsychologische Beurteilungen befähigt».
Hunderte Fälle betroffen
Angesichts der Tätigkeit in einem derart heiklen Bereich lässt das Verdikt aufhorchen. Zwar betrifft das Urteil einen Einzelfall. Doch hat Masts Firma Hunderte von Patienten abgeklärt. Und der St. Galler Rechtsstreit ist nicht der erste, in den Mast involviert ist. Allerdings waren weder Mast noch seine Firma in dem Gerichtsprozess Partei.
Doch das Bundesamt für Sozialversicherungen relativiert das eigene Rundschreiben an die IV-Stellen gegenüber SonntagsBlick. Die Behörden erklären den Umstand, dass Mast als neuropsychologischer Gutachter gestoppt wird, zur Formalie. «Diese Einschränkung geht einzig auf die erklärten formellen Gründe zurück und hat keinerlei Zusammenhang mit der Qualität der Gutachten dieses Arztes», teilt der Sprecher des Amts auf Anfrage mit.
Zudem verweist man auf einen ähnlichen Prozess im Thurgau, bei dem Mast gestützt wurde. Er verfüge «über eine fachärztliche Ausbildung in Neurologie sowie über eine Zusatzausbildung in Neuropsychologie». Strittig sei nur, «ob diese beiden Ausbildungen zusammen dazu bemächtigen, neuropsychologische Gutachten durchzuführen».
«Gehört zum Tagesgeschäft»
An der Zusammenarbeit mit Mast hält das Bundesamt ausdrücklich fest: «Der erwähnte Arzt darf weiterhin neurologische Gutachten für die IV erstellen. Nur für neuropsychologische Gutachten darf er nicht mehr eingesetzt werden.» Naheliegende Schlussfolgerung: Von einem Gericht lässt sich die Verwaltung nicht so schnell beeindrucken.
Masts Firma sagt: «Dass die Kompetenz und die Unbefangenheit eines Gutachters von den Anwälten der Begutachteten bezweifelt werden, wenn das Gutachten nicht das erwünschte Ergebnis erbringt, ist keine Neuigkeit und gehört zum Tagesgeschäft einer Gutachterstelle.» Man werde den Entscheid des Bundesamtes für Sozialversicherungen nicht anfechten.
Als Konsequenz aus dem «fraglichen St. Galler Urteil» werde man «künftig für neuropsychologische Gutachten vorerst keine Neurologen einsetzen, bis die Frage, ob ein Facharzt für Neurologie ein neuropsychologisches Gutachten erstellen kann, anderweitig entschieden ist».