Das Melchenbühlgut ist ein Ort der Gegensätze. In der Ferne umgeben von Eiger, Mönch und Jungfrau bietet der Blick stadtwärts graue Wohnblocktürme. Im Ohr: muhende Kühe und ein vorbeiratternder Regionalzug.
Der Biohof am Berner Stadtrand bei Gümligen BE ist der perfekte Ort für Sandra (35) und David Bigler (35), um zwei weitere Welten aufeinanderprallen lassen: Fürsorgearbeit und Lebensmittelgewinnung. Kindertagesstätte und Bauernhof. Der Lebenstraum des Paares, das seit Jugendjahren zusammen ist. Sie leitet die hofeigene Kita, er führt den landwirtschaftlichen Betrieb.
Kinder haben Tier-Ämtchen
«Es ist uns wichtig, die Zuständigkeiten sauber aufzuteilen», sagt Sandra Bigler, während sie von den Kita-Kindern begleitet, in Gummistiefeln auf das Kälbergehege zustapft. Die Kinder haben begleitete Ämter auf dem Hof. Die Verantwortung für die Kinder liegt bei den Kita-Betreuerinnen und die Verantwortung für die Tiere bei David Bigler und seinen Angestellten. «Heute bin ich bei der Fütterung der Kälber dabei und helfe, wenn nötig», sagt der Bauer. Den dick eingepackten Kindern zwischen eins und fünf macht das Füttern mit Heu sichtlich Spass. Hochkonzentriert stecken sie den züngelnden Kälbern Heu durch die Metallstäbe.
Mitten im Geschehen in der Heukarre: die 20-monatige Lea. Die Tochter von Biglers ist einer der Gründe, warum es den Kita-Bauernhof gibt. «Sie geht auch in die Kita und liebt es», erzählt Sandra Bigler. Sie fügt schmunzelnd hinzu: «Auch wenn die Kita am Wochenende zu ist, sagt sie mir manchmal ‹Tschüss Mama› und geht dann rüber in die Kita.»
Das Paar fände es toll, wenn ihre Tochter eines Tages den Hof übernehmen würde. «Wir hätten aber auch kein Problem damit, wenn sie es nicht tun würde», sagt David Bigler. «Es ist eine schöne, aber auch harte Lebensaufgabe, einen Hof zu führen.» Die Zahlen zum Schweizer Hofsterben geben Bigler recht. Pro Jahr gibt einer von 100 Landwirten auf. Im Jahr 2022 schlossen 520 Bauernhöfe ihre Tore.
Gerüstet gegen Allergien
Auf die Frage, was die Kita von anderen abhebt, antwortet Sandra Bigler: «Es gibt viel Platz zum Toben. Das ist wichtig, weil Bewegung und Denkentwicklung zusammenhängen.» Auch Toleranz wird bei den Kindern gefördert. Den schummrigen Kuhstall betreten sie, als wäre er eine Kirche. Auffällig langsam, fast andächtig: «Sie haben schnell verstanden, dass im Stall nicht gerannt oder geschrien wird, weil es die Tiere erschreckt.»
Ein weiteres Argument für die Kombination von Kita und Bauernhof liefern Immun-Forscherinnen mit dem «Kuhstall-Effekt»: Bauernhofkinder entwickeln seltener Asthma und Allergien.
Mittagstisch mit hofeigenem Kalbfleisch
Auf der Bauernhofkita ist man der Natur näher als in einer Betreuungseinrichtung, in der Tiere und Pflanzen in Bilderbüchern leben. Zwei Kinder waren bei der Geburt eines Kälbchens dabei. Die Faszination für das neue Leben war gross. Wer auf dem Melchenbühlgut aber pure Bauernhofromantik erwartet, wird enttäuscht. Neben dem Umgang mit neuem Leben gehört auch der Umgang mit dem Tod zum Bildungsprogramm: «Wir haben den Kindern erklärt, dass die Kälber nur kurz bei uns sind und manche Leute sie essen», sagt Sandra Bigler. Sie streichelt ein karamellfarbenes Kälbchen. «Ich finde es manchmal schwierig, dass sie geschlachtet werden. Ludolf hier ist mir ans Herz gewachsen.»
Vom Stierkalb essen wird Bigler trotzdem. Für den Mittagstisch kochen Sandra Bigler und das Team so lokal wie möglich und wöchentlich Fleisch. Kalb vom Hof steht dabei auch auf dem Menü, geschlachtet wird im nahen Ostermundigen BE und Flamatt FR. Am Mittagstisch sitzt auch das Bauernhofteam. Auch hier wird Offenheit gelebt, Weltbilder ohne Fleischkonsum sind am Tisch willkommen: Eine Kita-Betreuerin ist Vegetarierin und ein 5-jähriger Kita-Bub hat Sandra Bigler gebeten, ihm kein hofeigenes Kalbfleisch aufzutischen. Eine Bitte, die sie respektiert.
Die Berner Bauernhofkita ist auch aus finanziellen Gründen entstanden. Der 19 Hektaren grosse Hof wurde früher von David Biglers Onkel betrieben. In der alten Form rentierte er nicht für die junge Familie. Für David Bigler war klar, es mussten mehr direkte Einnahmequellen her, um den Hof nachhaltig zu führen. Eine Kita zu integrieren, bot sich mit Sandra Biglers Erfahrung als Kitaleiterin an. So entschloss sich das Paar, 2021 den Hof zu pachten, auf Bio umzustellen und ihr Konzept schrittweise umzusetzen. Die Kita eröffnete im November 2023.
Waschbecken und Türen ohne Verletzungsgefahr
«Wir haben vieles für die Kita neu gebaut und investiert», sagt Bigler. Für den Betrieb von Kitas gelten strenge Vorschriften. Er zeigt auf Schiebetüren, die verhindern sollen, dass sich die Kinder die Finger einklemmen und ein langes Waschbecken auf Kleinkindhöhe. Das Besondere am Waschbecken ist, dass das Warmwasser sich nicht zu heiss aufdrehen lässt, damit sich die Kinder nicht verbrühen können.
Gebaut wird fleissig an einem grösseren Kitagebäude und einer neuen Küche mit Brotbackofen. Als zusätzliche Einnahmequelle verkauft das Paar Hofprodukte. Dafür haben sie zwei Automaten aufgestellt. Hier können Wandererinnen und Nachbarn Sandras hausgemachte Meringues und Carameltäfeli aus der Klappe fischen oder Milchflaschen füllen. Die Eier darin stammen noch von einem anderen Biohof. Das soll sich in Zukunft ändern – bald sollen Hühner auf den Hof ziehen.
Beliebter Arbeitsort
Je nach Wochentag sind unterschiedlich viele Kinder auf dem Hof. An manchen Tagen gibt es noch freie Plätze. «Vor der Pandemie war es oft schwierig, einen Kitaplatz zu bekommen, heute gibt es eher ein Überangebot», sagt Sandra Bigler. Mit Bewerbungen für das Betreuungsteam wird sie im Gegensatz zu anderen Kitas überschwemmt. «Wir sind froh, dass so viele Menschen an unser Konzept glauben und bei uns arbeiten wollen.»
Weder der Schweizer Bauernverband noch der Verband Kinderbetreuung Schweiz wissen, wie viele Bauernhof-Kitas die Schweiz zählt. Sandra Bigler schätzt die Zahl auf unter zehn. Dass das Konzept sich langfristig bewähren kann, hat sie bei ihrem ehemaligen Arbeitgeber in Bolligen BE gesehen. Die ansässige Bauernhof-Kita wird dort in zweiter Generation geführt.