Zwangsarbeit in der Schweiz
Heimmädchen mussten schuften – ohne Lohn

Das Lärchenheim in Lutzenberg AR zwang Teenagerinnen zur Fabrikarbeit und kassierte die Löhne ein. Bis Mitte der 1970er-Jahre. Kein Einzelfall, wie ein neues Buch zeigt. Ein Opfer erzählt.
Publiziert: 20.04.2023 um 17:57 Uhr
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Aktualisiert: 24.04.2023 um 11:56 Uhr
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Es gab Zwangsarbeit in der Schweiz. Davon erzählt ein neues Buch.
Foto: Reto Hügin
Yves Demuth

Bei Monika L. war es ein sexueller Übergriff. Weil sie mit 17 Jahren bedrängt wurde, wurde sie in ein Fabrikheim eingewiesen. Die Tat geschah an ihrem Arbeitsort als Dienstmädchen, im Jahr 1966: «Als die Ehefrau mit den Kindern im Ferienhaus war, belästigte mich der Hausherr sexuell. Ich wehrte den Übergriff erfolgreich ab, woraufhin er mich loswerden wollte», erzählt sie.

Die Teenagerin erhielt als Opfer keine Hilfe. Die Winterthurer Fürsorge «versorgte» Monika L. stattdessen für zwei Jahre im Lärchenheim in Lutzenberg AR. Das war ein Heim zur angeblichen Nacherziehung junger Frauen. Für Monika L. bedeutete das zwei Jahre Freiheitsentzug.

Monika L. ist ein Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen wie Tausende andere auch. Das Spezielle: Sie landete in einem Heim, das seine Insassinnen zur Fabrikarbeit zwang. Wie hunderte andere junge Frauen wurde sie nach der obligatorischen Schulzeit in einem Fabrikheim «versorgt», wo sie für Schweizer Industriefirmen arbeiten musste. Viele mussten bis zu ihrem 20. Geburtstag Zwangsarbeit verrichten. Das war damals der Tag der Volljährigkeit.

Der Leiter des Lärchenheims sagte über seine Insassinnen 1970: «Arbeitsscheu und -unlust haftet ihnen an, und eines unserer Erziehungsziele besteht darin, sie an regelmässige Arbeit zu gewöhnen.» Es seien junge Frauen, die in Gruppen die Tage «verträumen» würden, Feste veranstalteten und «zeitweise von karger Kost leben, nur um ihre Freiheit zu ‹demonstrieren›». Deshalb unterzog er die Teenagerinnen einer «Arbeitstherapie», wie er es nannte.

Insassinnen kamen an die Fusskette

Wer aus dem Lärchenheim flüchtete, wurde in der Regel ins Heim zurückgebracht und kam in die Strafkammer. In mindestens einem Fall musste eine Insassin im Heim eine schrittlange Fusskette tragen, damit sie nicht fliehen konnte. Das war zu Beginn der 1950er-Jahre, wie aus Dokumenten im Bundesarchiv hervorgeht.

Die angebliche Therapie beschreibt Monika L. so: «Gleich zu Beginn hiess es: ‹Du gehst arbeiten in der Unterwäschefabrik Mylady in Rheineck.› Da gab es keine Wahl. Das war einfach so. Ich musste hinter einer Textilmaschine den ganzen Tag lang Säume abschneiden. Es war eine monotone Arbeit, die wir während den üblichen Arbeitszeiten machen mussten. Fürs Mittagessen gingen wir zurück ins Lärchenheim. Die Arbeit war keine Ausbildung, das hat auch niemand behauptet. Niemand hat mich nach meinen Berufsvorstellungen gefragt. Eine Berufsberatung gab es nicht. Ich hätte lieber eine Lehre gemacht.» Über Geld habe der Heimleiter nie mit ihr gesprochen. «Für die zwei Jahre Fabrikarbeit im Lärchenheim habe ich keinen Rappen erhalten. Auch beim Heimaustritt gab es kein Geld.»

Auf dem Papier zahlte die Firma Monika L. zwar einen Lohn. Nur ging dieser direkt ans Heim. Das fand Monika L. aber erst heraus, als sie bei ihrer Pensionierung ihren AHV-Auszug studierte. Gemäss diesem erhielt sie einen Monatslohn von 431.25 Franken. Das wären nach heutigem Wert rund 9 Franken pro Stunde. Darüber gesprochen wurde mit ihr aber nie. «Uns wurde einfach gesagt, dass wir für unsere Unterbringung arbeiten müssen. Heute frage ich mich, warum ich nie Geld gesehen habe. Nicht einmal diesen mageren Lohn hat man mir gegönnt.»

«Niemand hatte uns auf die Freiheit vorbereitet»

In der Fabrik wurde Monika L. einmal vom Chef geschlagen. Dennoch findet sie ihre Zeit im Lärchenheim nicht allzu schlimm. Der Leiter des Lärchenheims sei immerhin nicht übergriffig gewesen, sondern lediglich überfordert. Das Waisenhaus in Winterthur ZH sei viel schlimmer gewesen. Und: «Schlimm war vor allem die Zeit unmittelbar nach der Heimentlassung», sagt Monika L. «Niemand hatte uns auf die Freiheit vorbereitet. Wir hatten keine Ahnung, wie man in Freiheit lebt. Ich wusste mit 19 Jahren nicht einmal, wie eine Zehnernote aussieht.»

Als die Rheintaler Firmen 1975 wegen der Rezession keine Arbeiterinnen aus dem Lärchenheim mehr brauchten, endete die Fabrikarbeit. Der Heimverein geriet in Finanzprobleme, weil die Einnahmen aus der Zwangsarbeit fehlten. Die Lärchenheim-Akten im Bundesarchiv zeigen beispielhaft, wie eng der Sozialstaat und die Wirtschaft zum gegenseitigen Nutzen zusammengearbeitet haben. Doch ein Einzelfall war das nicht. Ähnliche Heime gab es im Nachbardorf Walzenhausen AR, im Toggenburg, im Glarnerland und im Kanton Solothurn für die Uhrenindustrie.

Die Leidtragenden dieses Systems waren die «versorgten» Frauen. Kein Gericht hat sie je für eine Straftat verurteilt. Und genau deshalb war ein Arbeitszwang für sie schon seit 1941 unzulässig. Die Schweiz hatte in zwei Abkommen bestätigt, dass sie ohne ein Gerichtsurteil niemanden zur Arbeit zwinge. Auch nicht «als Massnahme der Arbeitsdisziplin». Nach Schweizer Recht galt: «Die zuständige Behörde darf Zwangs‑ oder Pflichtarbeit zum Vorteile von Einzelpersonen oder privaten Gesellschaften und Vereinigungen weder auferlegen noch zulassen.» Doch daran hat sich die Schweiz jahrzehntelang nicht gehalten.

Ein Jahr nach der Entlassung von Monika L. aus dem Lärchenheim gab sogar der Bundespräsident zu, dass die Schweiz ein Problem mit Zwangsarbeit habe. In einer Nationalratsdebatte sagte er, dass eine «Versorgung mit Zwangsarbeit verbunden» sein könne. Der Justizminister Ludwig von Moos gestand damit 1969 ein, was ein Ständerat bereits 1931 im Ratssaal gesagt hatte: In der Schweiz gab es Zwangsarbeit.

Mehr lesen Sie im neuen Buch «Schweizer Zwangsarbeiterinnen. Eine unerzählte Geschichte der Nachkriegszeit», das soeben in der Edition Beobachter erschienen ist. Die Buchvernissage findet am 3. Mai um 19 Uhr im Volkshaus in Zürich statt.

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