Christina Surers Vater war ein Verdingkind
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Zwang, Schläge und Strafarbeit:Christina Surers Vater war Verdingkind

Christina Surers Vater war ein Verdingkind
«Meine Kindheit bestand aus Schlägen, Strafen und Zwangsarbeit»

Die Rennfahrerin lebt auf der Sonnenseite des Lebens, ihr Vater lernte die dunkle kennen. Gemeinsam gehen sie mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit, damit das Drama der Verdingkinder nicht vergessen geht.
Publiziert: 06.12.2019 um 22:42 Uhr
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Aktualisiert: 07.12.2019 um 08:52 Uhr
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Rennfahrerin Christina Surer und ihr Vater Peter Bönzli.
Foto: Thomas Meier
Flavia Schlittler (Text), Thomas Meier (Fotos)

Peter war fünf Jahre alt, als seine Kindheit endete. Am 2. Dezember 1952 wurde seiner Mutter die elterliche Gewalt über ihre vier Kinder entzogen. Diese kamen für ein Jahr in das Waisenasyl Bern. Danach lebten er und sein Bruder im geschlossenen Knabenerziehungsheim Brünnen, die zwei Schwestern im Mädchenheim ganz in der Nähe. «Unser Vater starb, als ich drei Jahre alt war, an Tuberkulose. Meine Mutter war Fabrik-Textilarbeiterin. Ich weiss noch, wie wir draussen spielten, als plötzlich jemand vor uns stand und uns einfach mitnahm. Meine Mutter war nicht einmal zu Hause», erzählt Peter Bönzli (72), Vater von Rennfahrerin und Moderatorin Christina Surer (45). Es ist das erste Mal, dass er öffentlich über seine Zeit als Verdingkind spricht. Er wie auch seine Tochter wollen dazu beitragen, dass dieses schwarze Kapitel der Schweizer Geschichte nicht vergessen geht.

Die Tage, Wochen, Monate, gar Jahre waren stets gleich. Peter und die 29 weiteren Jungen waren untergebracht auf dem riesigen Bauerngut am Rande der Stadt Bern. Im Sommer mussten sie morgens um vier Uhr aufstehen. «Dann hiess es erst mal Gras für die 30 Kühe und sechs Pferde besorgen. Es gab ein kurzes Frühstück, dann Schule, danach mussten wir die Parkanlage oder den Gemüsegarten pflegen. Zudem Kartoffeln schälen, Geschirr abwaschen oder Toiletten putzen» Bildung stand an letzter Stelle. Im Sommer ging es oft gar nicht zur Schule. «Statt eines Schreibstifts hatten wir die Heugabel in der Hand», so Bönzli. Sein zwei Jahre jüngerer Bruder Kurt wusste lange nicht, dass sie Brüder sind. «Wir verloren das Gefühl für Familie, was Freundschaft ist, lernten wir nicht kennen. Alles, was wir kennenlernten, war, zu schuften und zu gehorchen. Mehr zählte auch nicht.» Ein Besuch bei seinen Schwestern, die 200 Meter von ihm entfernt lebten? Weit gefehlt. Nicht erwünscht, nicht erlaubt.

Wer nicht parierte, wurde bestraft

«Der Heimleiter hat uns seinem Terrorregime unterzogen. Er war im Militär Leutnant, uns hat er wie seine Soldaten behandelt. Keinen Moment, in dem wir nicht unter Druck standen.» Keinen Schritt ohne Überwachung, der sonntägliche Pflichtbesuch in der Kirche wurde in Zweierreihen angetreten. Wer nicht parierte, wurde bestraft. «Es gab Schläge mit der Hand, mit dem Gurt, auch mussten wir zur Strafe stundenlang stehen, und das mit gerade mal mit sieben Jahren.» Geprägt habe die 30 Schüler die permanente Angst, bestraft zu werden. «Ein schiefer Blick, falsche Töne beim Singen reichten, wir wussten nie, wer weshalb drankommt. Meine Kindheit bestand aus Schlägen, Strafen und Zwangsarbeit.»

Einen Sonntag im Monat durften sie von ihren Eltern abgeholt werden, zu Hause ein Wochenende verbringen. Bönzlis Mutter kam selten bis nie, obwohl sie da noch in der Stadt Bern wohnte. Weshalb nicht? «Ich denke, es war ihr Frust, dass man ihr die Kinder weggenommen hat. Vermutlich wollte sie nichts mehr mit uns zu tun haben.» Sie habe weder um sie gekämpft noch sich um sie gekümmert. Peter Bönzli erlebte als Kind weder Liebe noch Wärme. Keine Umarmung, niemand, der seine seltenen Tränen trocknete. «Da ich keine Quervergleiche hatte, nicht wusste, wie es anders sein kann, hat es mich nicht kaputt gemacht», so Bönzli.

Er habe seine Gefühle wohl nie angestellt, daher wurden sie auch nie abgestellt, sagt er. Trauer verspürte er selten. «Nur an Weihnachten, wenn wir alle am Gartentor standen und darauf warteten, abgeholt zu werden. Uns holte niemand.» Als kleiner Trost hätten er und sein Bruder dann Velofahren dürfen, zum Geburtstag am Kiosk eine Tafel Schokolade kaufen. «Das waren die schönsten Erlebnisse meiner Kindheit.»

Wie er es geschafft hat, nicht zu zerbrechen, weiss er auch nicht

Als Peter Bönzli mit 16 Jahren aus der Anstalt kam, ging er ins Welschland. Erst schlug er sich als Pöstler durch, was ihm gefiel. Danach machte er das KV, ein Traum, den er schon in frühester Jugend hatte, auch wenn niemand glaubte, dass er es schaffen würde. Der Amtsvormund, der einmal im Jahr vorbeikam und die Buben beurteilte, schrieb über ihn, er werde «trotz bescheidenen geistigen Gaben durch Fleiss und Zuverlässigkeit ein treuer Angestellter» werden.

«Diesen Satz werde ich nie vergessen.» Obwohl herablassend gemeint, war die Beurteilung für ihn ein Ansporn mehr, viel in seinem Leben zu erreichen – was ihm gelang. Er arbeitete sich hoch, liess sich weiterbilden, bis er eine eigene Unternehmensberatung mit zwölf Angestellten hatte. «Ich habe die Wege meiner ehemaligen Heimkollegen verfolgt, ausser aus mir hat meines Wissens keiner gross Karriere gemacht. Mit der schweren, traurigen Kindheit sind sie nicht klargekommen.»

Wie er es geschafft hat, weiss er selbst nicht. «Es liegt wohl an meinem Charakter. Obwohl man mir weder eine unbeschwerte Kindheit noch eine schöne Jugend schenkte, blieb ich immer ein positiver Mensch.» Sogar mit seiner Mutter, die wieder verheiratet war, zwei Töchter gebar und mit Bönzlis Stiefvater nach Basel zog, trat er nach dem Heim wieder in Kontakt.

Weshalb sie ihn und die drei Geschwister weggab, weshalb sie ihn nie besuchte? Darüber sei innerhalb der Familie aber nie gesprochen worden. «Ich war ohnehin ein sehr schüchterner Bub, habe mich nicht getraut. Niemand habe sie damit konfrontiert, sie von sich aus auch nie darauf angesprochen.» 1995 starb sie an Krebs, Peter Bönzli begleitete sie trotz allem, gemeinsam mit seiner Schwester, bis zum letzten Atemzug. Auch in den letzten Momenten ihres Lebens kam keine Erklärung, keine Entschuldigung. «Ich kann damit leben. All die Jahrzehnte nach dem Heim habe ich doppelt und viel bewusster genossen. Vor allem darf ich das Glück geniessen, eine wunderbare Tochter zu haben.»

Für Christina Surer ist ihr Vater ein Vorbild

Als er 27 Jahre alt war, kam Christina zur Welt. Als sie drei Jahre alt war, trennten sich ihre Eltern. «Ich hatte immer schon eine sehr enge Beziehung zu meinem Vater», sagt die Rennfahrerin. «Wir beide sind das beste Team der Welt. Die gemeinsamen Wochenenden waren immer meine Highlights.» Für Christina Surer ist der Vater ein Vorbild. «Ich bin stolz auf ihn und das, was er aus seinem Leben gemacht hat. Nie gab er das, was er erlebte, an andere weiter. Nie schrie er mich an, und er bestrafte mich nicht.»

Er lasse sich auch auf keine Streitereien ein, provoziere nicht, gehe mit einem Lächeln durchs Leben. «Er ist der positivste und humorvollste Mensch, den ich kenne.» Sie habe jedoch lange nicht gewusst, dass er im Heim war. Die Sonntage bei seiner Mutter fand sie sogar cool. «Sie war immer lustig und auch mit 65 noch eine Partynudel, die am liebsten dreimal pro Tag ausgegangen ist.»

Fragen der Enkel brachten die Vergangenheit ans Licht

Das frühe, lange Leiden ihres Vaters kam erst vor ein paar Jahren ans Tageslicht. «Ich schenkte den Grosseltern meiner Kinder ein Buch mit vielen Fragen zu ihrem Leben», erzählt Christina Surer. «Zum Beispiel, womit hast du früher gespielt, was hast du zum Geburtstag erhalten? Die Antworten von meinem Vater auf die Fragen waren einfach – nichts.»

Sie, die heute mit Emily (6) und Lio (4) Kinder in genau jenem Alter hat, in dem ihrem Vater die Kindheit genommen wurde, geht sein Schicksal sehr nahe. «Auch für mich ist es unvorstellbar, dass seine Mutter nicht gekämpft hat. Ich würde kaputtgehen und alles dafür machen, dass ich die Kinder wieder bei mir habe. Doch ich kann und will nicht werten, warum sie es nicht tat. Sie hatte wohl ihre Gründe.»

Peter Bönzli erhielt vom Verdingkinder-Fonds 25'000 Franken. Dafür musste er sich mit seiner Vergangenheit konfrontieren. «Das war nicht einfach für mich», sagt er, «da es zu meinem Überleben gehörte, nie zurückzuschauen.» Für ihn jetzt auch eine Gelegenheit, sich zu bedanken: «Beim Wiedergutmachungs-Initiant Guido Fluri, bei Bundesrätin Simonetta Sommaruga – und bei allen anderen, die sich für die Wiedergutmachung eingesetzt haben und das weiter tun.»

Frist für Solidaritätsbeiträge soll jetzt aufgehoben werden

Die Schweiz hat sich an Zehntausenden Kindern und Erwachsenen schuldig gemacht. Noch mindestens bis 1981 wurden sie im Rahmen fürsorgerischer Zwangsmassnahmen als billige Arbeitskräfte verdingt oder fremdplatziert. Bei einzelnen Bauernhöfen, aber auch in Heimen, Strafanstalten und geschlossenen Einrichtungen. Ihr Alltag war geprägt von Vernachlässigung, Missbrauch und Gewalt. Vor allem dank der Bemühungen von Guido Fluri (53), Urheber einer Wiedergutmachungs-Initiative, wurde nach Jahrzehnten endlich ein Fonds eröffnet: Von Anfang 2017 bis Ende März 2018 hatten ehemalige Verdingkinder die Möglichkeit, beim Bundesamt für Justiz mit einem Gesuch ihren Anspruch auf finanzielle Wiedergutmachung in Höhe von je 25'000 Franken geltend zu machen. Die Fristbegrenzung wird das Parlament nun aufheben. Auch werden für den Betrag keine Ergänzungsleistungen mehr gekürzt. Am 20. Dezember werden National- und Ständerat diese Gesetzesänderung verabschieden.

Die Schweiz hat sich an Zehntausenden Kindern und Erwachsenen schuldig gemacht. Noch mindestens bis 1981 wurden sie im Rahmen fürsorgerischer Zwangsmassnahmen als billige Arbeitskräfte verdingt oder fremdplatziert. Bei einzelnen Bauernhöfen, aber auch in Heimen, Strafanstalten und geschlossenen Einrichtungen. Ihr Alltag war geprägt von Vernachlässigung, Missbrauch und Gewalt. Vor allem dank der Bemühungen von Guido Fluri (53), Urheber einer Wiedergutmachungs-Initiative, wurde nach Jahrzehnten endlich ein Fonds eröffnet: Von Anfang 2017 bis Ende März 2018 hatten ehemalige Verdingkinder die Möglichkeit, beim Bundesamt für Justiz mit einem Gesuch ihren Anspruch auf finanzielle Wiedergutmachung in Höhe von je 25'000 Franken geltend zu machen. Die Fristbegrenzung wird das Parlament nun aufheben. Auch werden für den Betrag keine Ergänzungsleistungen mehr gekürzt. Am 20. Dezember werden National- und Ständerat diese Gesetzesänderung verabschieden.

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