Die Kleider sind dreckig und kaputt, Schulbildung gibt es keine, der Gesundheitszustand ist schlecht: Das Schicksal der Fabrikkinder, die 1828 in Turgi AG in der Spinnerei Bebié der Brüder Heinrich und Rudolf Bebié arbeiteten, wurde früh besiegelt. Die Pfarrer der umliegenden Gemeinden beschrieben die Kinder als geistig, körperlich und sittlich verwahrlost. Dies, obwohl der Aargauer Regierungsrat die Industriebetriebe am 1. Mai 1828 dazu verpflichtet hatte, in der Fabrik eine Schule zu eröffnen. Erst als das Ansehen der Gebrüder je länger je mehr sank und die Behörden erneut Druck ausübten, entstand 1839 eine offizielle Fabrikschule. So hatten die Kinder neben der Arbeit auch einige Stunden Unterricht pro Tag.
Bernadette Zemp (60), Autorin aus Seon AG, hat sich dem Schicksal dieser Kinder angenommen und das Buch «Fädlikinder» geschrieben. Mit diesem Buch möchte sie den Kindern eine Stimme geben. «Sie wurden ihrer Kindheit beraubt», so Zemp.
In der ganzen Schweiz arbeiteten Kinder
Ähnlich schlecht wie den Kindern aus der Bebié-Fabrik erging es in der Schweiz einigen. So arbeiteten auch in der Spinnerei Schappe in Arlesheim BL oder in der Spinnerei Henggeler im Ägerital ZG Kinder. Auch im Zürcher Oberland war Kinderarbeit verbreitet, wie eine Stellenanzeige im «Anzeiger von Uster» aus dem Jahr 1870 zeigt. In dieser Anzeige suchte ein Fabrikherr eine «zahlreiche Familie, namentlich mit arbeitsfähigen Kindern».
Auf die Thematik aufmerksam gemacht wurde Zemp durch eine Besucherin des Mühleramas, einer Eventlocation in Seon, die Zemp besitzt. Bei einem Kaffee erzählte die Dame von einem Buch über Lenzburg, bei dem Fädlikinder am Rand thematisiert werden. «Ich war sofort interessiert und machte mich an die Recherche», sagt die Autorin. Einfach war die Recherche für Zemp nicht.
Fabriken waren eine Bedrohung
«Viele Eltern sahen keine andere Möglichkeit, als ihre Kinder in die Fabrik zu schicken», sagt Zemp. Martin Lengwiler, Professor für Geschichte an der Universität Basel, betont, dass Kinderarbeit in der Schweiz bis ins 19. Jahrhundert völlig normal war. In der Heimarbeit oder auf Bauernhöfen, zum Beispiel. «Kinderarbeit wurde zuerst in den Industriefabriken als Problem erkannt», so der Historiker. Der Industriesektor wurde als etwas Neues wahrgenommen, man sah Gefahren. «Die Leute hatten Respekt, teilweise sogar Angst vor der Modernisierung, ähnlich wie heute bei der Digitalisierung.» Dass Kinder auch auf Bauernbetrieben bei der Arbeit verunglücken konnten, hinterfragte man nicht. «Bauernhöfe, auf denen Kinder arbeiteten, gehörten zur Schweiz dazu.»
Wie viele Kinder tatsächlich in Fabriken arbeiten mussten, ist nicht klar. Es gibt dazu keine Statistiken. Martin Lengwiler schätzt, dass mehrere 10'000 in den Fabriken tätig waren.
Fabrikgesetz ändere Situation nur bedingt
Doch es war in der Gesellschaft umstritten, Kinder in die Fabrik zu schicken. In aufgeklärten Schichten setzte sich zunehmend die Idee durch, Fabriken zu regulieren. «Das Fabrikgesetz von 1877 hat Kinderarbeit in Fabriken verboten, aber nicht auf landwirtschaftlichen Betrieben oder in der Heimindustrie», so Martin Lengwiler. In der Heimarbeit war Kinderarbeit bis 1940 verbreitet, erst dann wurde sie verboten.
Neben dem Fabrikgesetz war die Einführung der Volksschule, die bei der Gründung des Bundesstaats 1848 eingeführt wurde, ein wichtiger Pfeiler zur Abschaffung von Kinderarbeit. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts gab es keine nationale Schulpflicht, da die Gesetze nur für die kantonale Ebene galten.
Zu denken, dass ab 1877 gar keine Kinder in Fabriken mehr tätig waren, ist aber falsch. Mit dem Fabrikgesetz wurde eine eidgenössische Fabrikinspektion eingerichtet, die die Fabriken kontrollierte. «Die Berichte im 19. Jahrhundert sind voll von Klagen, dass das Verbot von Kinderarbeit missachtet wurde. Die Kinder arbeiteten weiterhin in den Fabriken», sagt Lengwiler. Viele Familien waren armutsgefährdet und lebten vom zusätzlichen Lohn der Kinder. Zudem wurde Bildung von vielen als unnütz angesehen, als Ablenkung. Martin Lengwiler: «Das Niveau des Schulunterrichts war allerdings auch deutlich tiefer als heute.»
Als Schulzwang und Fabrikgesetz zu greifen anfingen, wurde es unattraktiver, Kinder einzustellen. Es gab Bussen für Eltern wie auch für Fabrikherren. Der wohl ausschlaggebendste Punkt: Die Löhne wurden Ende des 19. Jahrhunderts besser, und es wurde möglich, sich einen minimalen Wohlstand zu erarbeiten.
«Fädlikinder» von Bernadette Zemp, Selbstverlag