Zwei Paar weit aufgerissene Kinderaugen starren in ein Farbenmeer aus Blassrosa, Erdbeerrot und Hellgrün. Fein säuberlich aufgereiht, stehen die bunten Glasfläschchen im Regal. Wassermelonen, Erdbeeren und Avocados zieren die Kartonverpackungen. Ihr Inhalt verspricht eine Haut, die die Mädchen vor dem Regal schon haben: strahlend, glatt, frei von Falten und Poren.
Aufgeregtes Am-Arm-Ziehen. «Der ist glaubs neu», sagt Lisa (11) zu Helene (12) und zeigt auf eines der pinken Fläschchen der Marke Glow Recipe. Es ist ein Toner, also ein Gesichtswasser, das Poren verkleinern und Feuchtigkeit spenden soll. «PHA» und «BHA» steht auf dem Etikett – Peelingsäuren, die für alternde oder unreine Haut vorgesehen sind. Der Preis für ein Fläschchen von 150 Millilitern: 42.90 Franken.
Das Problem: Die beiden haben nur 30 Franken Sackgeld mitgenommen. Dafür mussten sie sparen. Die beiden sind in der sechsten Klasse und erhalten pro Woche sechs Franken. Dass sie sich nicht viel leisten können, sind sie sich gewöhnt. «Wir reden darüber, was wir gerne kaufen wollen, aber kaufen es dann doch nicht, weil wir zu wenig Geld haben», sagt Lisa. Die beiden kichern und tuscheln, wie es beste Freundinnen eben so machen. Aufgeregt stürmen sie von Regal zu Regal.
Alle drei bis vier Monate, immer dann, wenn sie genug gespart haben, kommen die Freundinnen in den Kosmetikladen Sephora. Denn hier gibt es das, was die meisten Mädchenherzen zurzeit begehren: Schminksachen, aber eigentlich vor allem Hautpflegeprodukte.
Sephora-Kids-Trend auch in der Schweiz
Auf Tiktok kursieren zahlreiche Videos von Mädchen der Generation Alpha, also von Kindern ab Geburtsdatum 2010, die in Scharen in die Läden der französischen Kosmetikkette pilgern. Zielstrebig steuern sie die Regale an, mischen Seren und Cremes zusammen, fachsimpeln über Produkte mit Inhaltsstoffen wie Hyaluronsäure, Retinol oder Peptiden. Daneben gibt es ebenso viele Videos von entnervten Sephora-Verkäuferinnen und -Verkäufern. Sie berichten von verwüsteten Testern und einem allgemeinen Chaos, das die Kinder verursachen würden.
Das Phänomen hat einen Namen: Sephora-Kids. Würden sich die beiden Sechstklässlerinnen auch dazu zählen? Ja, aber: «Es gibt zwei verschiedene Arten von Sephora-Kids», erklärt Helene. «Die Kinder, die unhöflich sind und denen die Eltern alles bezahlen – und uns.» «Wir gehen einfach gerne in den Sephora», ergänzt Lisa.
Auch die beiden anwesenden Verkäuferinnen bestätigen, dass der Trend aus den USA längst in der Schweiz angekommen ist. «70 Prozent unserer Kundinnen sind Kinder», schätzt eine der beiden. «So schlimm wie in den Tiktok-Videos verhalten sie sich aber nicht.» Oftmals kämen Väter mit ihren Töchtern, sagt die andere. «Die kommen dann mit gefüllten Körben an die Kasse und wissen gar nicht, was ihre Kinder sich ins Gesicht schmieren.» Dann würden sie zur Vorsicht mahnen oder ganz abraten. Denn gewisse Inhaltsstoffe, die in Anti-Aging-Produkten enthalten sind, sind aggressiv und schädlich für Kinderhaut. Davor warnen auch immer mehr Dermatologinnen und Dermatologen – unter anderem auf Tiktok.
Unter dem Hashtag #skincare gibt es auf Tiktok über 19 Millionen Beiträge. Der Hype um Hautpflegeprodukte wird von sogenannten «Skinfluencern» befeuert. Also von Menschen, die in den sozialen Medien ihre Hautpflege- und Schminkroutinen zeigen. Nach ihrem Vorbild gibt es aber längst auch Mini-Influencerinnen, die ihre Skincare-Routine zeigen. Und das, obwohl man Tiktok laut Nutzungsbedingungen erst ab 13 Jahren nutzen darf. Aber es ist einfach, die Altersgrenze zu umgehen.
Oftmals werden die Kanäle zudem von Müttern geführt. Da ist etwa Kim Kardashians Tochter North West (10), die in einem Tiktok-Video eine Creme der beliebten Marke Drunk Elephant aufträgt. Kostenpunkt: 75.90 Franken. Oder aber Videos von unter 10-Jährigen, die fleissig ihre Cremes und Seren in die Kamera strecken. Darunter immer wieder Anti-Aging-Produkte.
An diesem Mittwochnachmittag macht sich noch keines der Mädchen Sorgen um alternde Haut. «Falten sind eigentlich nichts Schlimmes», sagt Helene. Aber eine Skincare-Routine, die haben sie beide: Feuchtigkeitscreme, Sonnenschutz und Wasserspray. Sie habe sich einen Toner von Glow Recipe zu Weihnachten gewünscht, sagt Lisa. Benutzen tut sie ihn aber nicht. «Ich weiss nicht, was der macht. Wahrscheinlich spendet er Feuchtigkeit.»
Helene erzählt, wie sie einmal aus Versehen eine Anti-Aging-Creme von Drunk Elephant – der Marke, die auch Kim Kardashians Tochter verwendet – gekauft habe. Die habe ihre Mutter dann ausgemistet. Sie habe beim Kauf nicht gemerkt, dass es eine Anti-Aging-Creme war, Ehrenwort. «Ich fand einfach die Verpackung schön.»
Helene zieht Lisa zu den besagten Drunk-Elephant-Produkten. Die Dosen sind in schlichtem Weiss gehalten. Die Deckel hingegen haben knallige Farben: Violett, Türkis oder Hellblau. Und immer da: ein kleines Elefäntchen. «Alles schaut so schön aus», ruft Helene begeistert. Lisa nimmt eines der Döschen. «Die ist Anti-Aging, deshalb teste ich sie nicht im Gesicht.» Sie streicht eine erbsengrosse Menge Creme auf ihren Handrücken und träufelt dann ein weiteres Produkt darüber. Das Ganze vermischt sie zu einer Paste. Voilà: Fertig ist der «Skincare-Smoothie», wie sie ihn schon oft auf Tiktok gesehen hat.
Neuer Absatzmarkt für die Kosmetikindustrie
Knallige Farben, Elefanten: Drunk Elephant wurde in der Vergangenheit immer wieder kritisiert, mit ihrer Packung auf Kinder abzuzielen. Ein Vorwurf, den das Unternehmen zurückgewiesen hat. Im Dezember veröffentlichte Drunk Elephant einen Instagram-Post als Reaktion auf die Kritik. In der Bildunterschrift heisst es: «Viele unserer Produkte sind für alle Hauttypen geeignet, auch für Kinder und Jugendliche». Es folgt eine Auflistung der entsprechenden Produkte. Welche vermieden werden sollten, steht hingegen nicht.
Klar ist, dass sich für die Beauty-Industrie mit dem Hype ein neuer Absatzmarkt aufgetan hat. Laut einer Umfrage haben Teens und Tweens in den USA im Jahr 2023 20 Prozent mehr für Skincare-Produkte ausgegeben als im Vorjahr. Marktforscher gehen zudem davon aus, dass der Kosmetikmarkt für Kinder und Teenager bis 2028 jährlich weltweit um sieben Prozent wachsen wird.
Lisa und Helene sind inzwischen ein Regal weitergezogen, zu den Schminksachen. Sie diskutieren über ein flüssiges Rouge: «Ich bin unsicher», sagt Lisa, «aber meine Freundin Greta hat es auch und findet es gut.» Ein roter Strich auf dem Handrücken, die Farbe will schliesslich getestet werden. In der Schule, in der Pause, würden sie oft über Produkte reden, die gerade in der Beauty-Community beliebt seien. Helene meint: «Ich habe gehört, dass es so leicht ist, dass man es fast nicht spürt auf der Haut.» Das Rouge lassen sie erst mal zurück, die 30 Franken Sackgeld müssen schlau investiert werden.
Im Hintergrund läuft Lady Gagas «The Edge of Glory». Helene zeigt auf einen Lipgloss, Farbe «Bunny Tongue» (Hasenzunge) – der sei gerade «voll der Hype auf Tiktok». Ob die beiden sich schminken würden? Selten, am Morgen sei die Zeit einfach zu knapp. «Wenn, dann brauche ich nur eine Wimpernzange und ein wenig Mascara», sagt Lisa. Manchmal telefoniere sie abends via Videocall mit Freundinnen, sagt Helene. «Dann schminken wir uns richtig krass, aber so würde ich niemals in die Schule gehen.» Lisa betrachtet noch ein anderes Rouge. «Das hätte ich gerne, das soll toll sein.» Schulterzucken. 40 Franken, das sei einfach zu teuer.
Mittlerweile gibt es erste Reaktionen auf den Skincare-Hype der Generation Alpha: So hat eine führende Drogerie- und Apothekenkette in Schweden vor wenigen Wochen den Verkauf von Anti-Aging-Produkten an unter 15-Jährige verboten. Diese können nur noch mit Erlaubnis der Eltern oder einem ärztlichen Attest gekauft werden. Man wolle Verantwortung übernehmen und keine ungesunden Ideale fördern, begründete die Kette den Schritt. Und auch der Beauty-Konzern Dove hat eine Tiktok-Aufklärungskampagne mit dem Titel «Gen A Anti-Aging Skin Care Talk» gestartet. Das, nachdem eine von Dove gesponserte Umfrage ergeben hat, dass mehr als die Hälfte der 10- bis 17-Jährigen sich Sorgen um ihr Aussehen machen würden. Eines von drei Mädchen kann sich kosmetische Eingriffe vorstellen.
Mehr zu sozialen Medien
Medienpsychologe fordert Aufklärungsarbeit
Nicht nur die Branche zeigt sich besorgt, sondern auch Psychologinnen und Psychologen. «Auf Tiktok ist man häufig mit einem unrealistischen Schönheitsideal konfrontiert – und mit Produkten, die man verwenden muss, um dieses zu erreichen», sagt Medienpsychologe Gregor Waller (53). Hinzu komme der Druck von Gleichaltrigen, gewisse Produkte haben zu müssen, um dazuzugehören. «Hat man das Gefühl, nie zu genügen, kann sich das negativ auf das Selbstwertgefühl auswirken.» Schminken und älter aussehen zu wollen, ist nichts Neues. Neu ist aber der Vergleich in den sozialen Medien: «Aus der Forschung weiss man, dass dieser Vergleich zu psychischen Problemen beitragen kann», sagt Waller. Und diese würden bei jungen Frauen und Mädchen in der Schweiz immer häufiger vorkommen.
Waller fordert, dass Eltern und Schulen Aufklärungsarbeit leisten. Denn: Auf Plattformen wie Tiktok gibt es viele bezahlte Werbepartnerschaften mit Influencerinnen und Influencern. Mit diesen können Marken die junge Zielgruppe gezielt erreichen. «Junge Menschen müssen lernen, Werbung und Filter kritisch zu hinterfragen, um nicht auf die Manipulationsversuche der Unternehmen hereinzufallen», so Waller. So könnten sie Resilienz aufbauen.
Nach einer Stunde Testen und zwei bunte Handrücken später haben Lisa und Helene sich entschieden: Beide kaufen sich das flüssige Rouge. Das, das sich so anfühlen soll, als ob man nichts auf der Haut habe. Lisa kramt ihr Sackgeld aus der Jackentasche und zählt es ab. Sie hat Glück: Die 29.90 Franken liegen drin.
«Ich bin glücklich mit dem, was ich gekauft habe», sagt Helene. «Wofür hätte ich mein Geld sonst ausgeben sollen?» Fest umklammert sie die kleine rote Packung in ihrer Hand. Hütet sie wie einen Schatz. Zu Hause wird sie die Verpackung ausstellen.
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