An den Flanken der umliegenden Jurahügel hängt noch Nebel, doch auf den Gemüsefeldern hoch über Wölflinswil AG liegt an diesem Septembersamstag schon eine angenehme Wärme. Neben einem Gemüsetunnel voller Tomaten, Gurken, Peperoni und Auberginen parken eine Handvoll Autos. Ein, zwei davon mit offenem Kofferraum, in dem ein Kind sitzt und Hörspielen lauscht.
Es ist Aktionstag für die Genossenschafterinnen und Genossenschafter der Initiative GartenBerg; etwa ein Dutzend Erwachsene sind gekommen. Sie verteilen sich zwischen langen Lauchreihen und rücken dem wuchernden Unkraut zwischen dem Gemüse mit Küchenmessern zu Leibe.
Produktion direkt finanziert
Im Kleinen setzen sie in ihrem Garten auf dem Berg einen Umsturz um, einen Systemwechsel in der Landwirtschaft. Solawi, kurz für solidarische Landwirtschaft, nennt sich das, was hier praktiziert wird. «Die solidarische Landwirtschaft ist eine echte Alternative zu den gängigen landwirtschaftlichen Produktionsmethoden», sagt Heidi Emmenegger (45), GartenBerg-Gründungsmitglied.
Die Kernidee: Eine feste Gruppe von Mitgliedern finanziert Fachkräfte aus Landwirtschaft oder Gemüsebau und macht sie so von den Grossverteilern unabhängig. Der Betrieb muss nicht am freien Markt bestehen, wo unter dem Preis- und Konkurrenzkampf oft die Gesundheit von Mensch, Tier und Boden leidet. «Als Konsumierende und Produzierende nehmen wir die Landwirtschaft gemeinsam in unsere eigenen Hände und gestalten sie so, dass wir voll dahinterstehen können», sagt Tex Tschurtschenthaler (53) von der Solawi-Kooperationsstelle.
Am Beispiel GartenBerg erzählt: Als der bestehende Bauernhof auf dem Altenberg im oberen Fricktal vor ein paar Jahren an die nächste Generation ging, überlegte sich das junge Bauernpaar, wie man diesen anders bewirtschaften könnte. Während es einen Teil weiter als Bio-Milchvieh-Betrieb führt, ist Land in der Grösse von eineinhalb Fussballfeldern heute in der Hand der Genossenschaft GartenBerg, der auch das Bauernpaar angehört.
Mitgliederbeitrag plus Arbeitseinsätze
In dritter Saison bauen zwei angestellte Fachkräfte Bio-Gemüse an, mit Unterstützung einer Praktikantin und der Mitglieder, die sich zu vier bis acht unentgeltlichen Halbtageseinsätzen im Jahr auf dem Feld verpflichten. Oder sie packen beim Befüllen der 130 Gemüsekörbe an, die rund 40-mal im Jahr ausgeliefert werden. Die Mitgliedschaft kostet jährlich 900 bis 1400 Franken, je nach gewünschter Grösse des Ernteanteils.
«Diese nachhaltige und faire Form der Landwirtschaft scheint mir die einzig richtige. Und wir Mitglieder lernen, wieder mit dem Gemüse auszukommen, das saisonal verfügbar ist», sagt Franziska (39), die auf der anderen Seite des Benkenpasses nahe bei Aarau wohnt. Sie teilt mit ihrer Familie eine GartenBerg-Mitgliedschaft mit den Nachbarn und ist das zweite Mal an einem Aktionstag dabei.
Ihr Sohn Younis (8) und Nachbarsbub Pablo (7) arbeiten etwas entfernt auf einer unbepflanzten Fläche, die ebenfalls von Unkraut befreit werden muss. Ihr Partner Ezahn (42) streicht das Gemeinschaftliche hervor: «Zusammen an der frischen Luft zu arbeiten und die Erde zu riechen, das finde ich schön, fast meditativ.»
Foodwaste gibt es hier nicht
Auch Andrea (42) hat ihre Tochter dabei. Die siebenjährige Malena erzählt mit Begeisterung, dass Rüebli auch «ganz komisch» aussehen könnten. Einmal landete eines in ihrem Gemüsekorb, das aussah wie eine Hand. Ein Rüebli, das nie den Weg in die Auslage eines Grossverteilers finden würde, Malena aber bestens schmeckte.
«Die Arbeit hier öffnet uns die Augen dafür, wie viel Arbeit in der Gemüseproduktion steckt – und wie viel Foodwaste es in der kommerziellen Landwirtschaft geben muss», sagt Andrea. Ihre Familie wollte wissen, woher das Gemüse stamme und wie es angebaut wurde. Dass bei der Solawi die Lieferketten wegfallen, weil die Mitglieder ihre Gemüsekörbe aus einem der Depots in den umliegenden Gemeinden abholen, ist für sie ebenfalls ausschlaggebend.
Der GartenBerg ist noch jung, die Schweiz gehört aber gemeinsam mit Japan und den USA zu den Pionierländern der solidarischen Landwirtschaft, in der Deutschschweiz auch Regionale Vertragslandwirtschaft genannt. Von der Region Genf aus breitete sich die Idee einer wirklich nachhaltigen Landwirtschaft, wo Bäuerinnen und Bauern mit der Kundschaft direkt zusammenarbeiten, ab den frühen 1980er-Jahren in der Schweiz aus.
Ein Solawi-Boom
Gerade erlebt die Solawi eine neue Blütezeit, wie die Kooperationsstelle für solidarische Landwirtschaft schreibt. Zahlreiche neue Initiativen sind in jüngster Vergangenheit hinzugekommen. Eine Karte zeigt: Allein seit 2021 gab es Neugründungen zum Beispiel in Wangen bei Olten SO, Alpnach und Kerns OW, Niederdorf BL, Riehen BS, Baden AG, Interlaken BE, Sumvitg GR, Bubikon ZH – und einige mehr. Wie viele Solawi-Betriebe es in der Schweiz gibt, lasse sich nicht genau sagen, sagt Tex Tschurtschenthaler von der Solawi-Kooperationsstelle: «Es gibt keine Meldepflicht, und der Begriff ist auch nicht geschützt.»
Manche produzieren nur Gemüse, wie der GartenBerg, andere wie Ortoloco in Dietikon ZH beliefern die Mitglieder auch mit Fleisch, Tofu, Öl, Pasta, Getreide, Eiern und Milchprodukten.
Ortoloco gibt es bereits seit 14 Jahren. Auch dort stellt man fest, dass das gesellschaftliche Interesse an den Ideen der Solawi in den letzten Jahren deutlich grösser geworden ist. Genossenschafter Christian Vetter (52) sieht zwei Gründe für die schweizweite Zunahme von Solawi-Betrieben: Einerseits seien die Existenzprobleme der landwirtschaftlichen Fachkräfte enorm. «Das erhöht die Bereitschaft, sich mit neuen Ansätzen auseinanderzusetzen.»
Andererseits identifizieren sich viele Menschen in der Schweiz immer noch sehr mit der Landwirtschaft. «Unsere Mitglieder haben sicher ein vertieftes Verständnis für die Bedingungen der Landwirtschaft, ohne diese auf Folklore zu reduzieren», sagt Vetter.
In eine Schublade stecken lassen sich die Mitglieder aber nicht. «Bis jetzt wird Solawi vorwiegend von Menschen wahrgenommen und als Nahrungsmittelquelle gewählt, die erkennen, dass auch ein Bio-Design von Verpackungen und Fotos von nett lächelnden Landwirtinnen und Landwirten keine Garantie für Nachhaltigkeit sind», sagt Tex Tschurtschenthaler. So engagieren sich in Solawis Lehrpersonen, Pflegefachleute und Sozialarbeiterinnen ebenso wie Coiffeusen, Informatiker, Wissenschaftlerinnen und ehemalige Top-Führungskräfte. Studierende ebenso wie Pensionierte. Und viele Eltern nehmen ihre Kinder mit.
Heidi Emmenegger von der GartenBerg-Koordinationsgruppe knüpft mit ihrem Engagement in der Genossenschaft selbst an Prägendes aus ihrer Kindheit an. Die Tochter eines Biobauernpaars sagt: «Meine schönsten Erinnerungen sind das gemeinschaftliche Arbeiten draussen auf dem Hof mit vielen Leuten. Das habe ich seit meiner Kindheit vermisst.» Damals auf dem elterlichen Betrieb war es die Kirschenernte. Heute auf dem GartenBerg zum Beispiel das Jäten.
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