Der Schatten des Gotthards hat sich schwer und schwarz über das Umland gelegt. Das Thermometer zeigt unter null. Die Luft riecht nach Schnee. Ein gädriger Abend. Die Leute bleiben drinnen vor ihren Kachelöfen. Doch einer kurvt mit dem Pick-up von seinem Haus in Amsteg nach Göschenen: Peter Amacher. Sein Ziel: das künftige Nordportal der zweiten Gotthardröhre. Der Stollen. Amacher will schauen, ob bei den Spreng- und Bohrarbeiten neue Kristallhöhlen – sogenannte Klüfte – zum Vorschein gekommen sind. Wie jeden Abend. Ausser er ist krank. Oder sonst verhindert. Was aber nicht ohne Folgen bleibt: «Wenn ich ein paar Tage nicht im Stollen war, kribbelt es.» Was er tut, ist wie eine Sucht.
Peter Amacher (68), rotes Stirnband, weisser Bart, sonnengegerbtes Gesicht, mit einem Bergkristall um den Hals, ist Strahler – so nennen sich die Mineralien- und Kristallsucher im Alpenraum. Und als solcher hat er einen Traumjob: Er ist Chef der Mineralienaufsicht des Kantons Uri. Seit 18 Jahren schon. Mit seinen sechs Mitarbeitern begleitet er den Bau der zweiten Gotthardröhre, durch die ab 2029 die Autos rollen sollen. Das tat er zuvor schon beim Gotthard-Basistunnel der Eisenbahn.
Der Fund seines Lebens
Nun steht er mit Helm, Stahlkappenstiefeln und orangem Übergwändli im acht Meter breiten Stollen. Wandert durch dessen feuchtwarmes Inneres, das alle Einflüsse von draussen wie in einem Mutterbauch absorbiert. Und seine Sinne schärft für das, worauf es hier ankommt: den Berg und seine Schätze.
Und was für welche – das zeigt sich in einem Seitenstollen, wo bei ihm Erinnerungen hochkommen. Etwas abseits des Dröhnens des Förderbands, das den tonnenschweren Schutt von der riesigen Tunnelbohrmaschine am Stollenende nach draussen schaufelt, erzählt er vom «Fund meines Lebens». Einer der «besten der Schweiz». Im Oktober legten die Bergarbeiter 300 Meter vom Stolleneingang entfernt und in sieben Metern Höhe eine grosse Kluft voller Kristalle frei. Mehrere Hundert Kilogramm. Das Besondere, sagt er: «Die Ware lag da so lose drin wie Kartoffeln im Garten.» Und: die Qualität. Amacher kommt ins Schwärmen: «Absolute Wahnsinnsstücke.» Rosafluorit. Quarze. «Super Glanz. Wunderschöne Farbe. Und superglatte Oberfläche.» So etwas sei selten bei Fluoritkristallen. Meist seien diese schon korrodiert, glänzten nicht mehr.
Doch ganz so einfach gab der gute alte Gotthard seinen Schatz nicht her. Die Bergung dauerte 23 Stunden. Körperliche Schwerstarbeit. Amacher und seine Leute standen die ganze Zeit auf dem Rand einer Hebebühne, ihre Oberkörper in die Höhle gebeugt, fischten die Stücke heraus und füllten mehrmals die Ladefläche seines Pick-ups. Nur einmal machten sie Halt. Als plötzlich neben ihren Köpfen Gestein herunterrieselte, erst nur ein bisschen, dann mehr. Amacher spürte: Sie mussten weg. Nahm seine Männer zur Seite. Und tatsächlich: Bald darauf sei ein Felsbrocken von der Decke «abbeghiit», so gross – «der hätte uns erdrückt», sagt er. Doch sie machten weiter, kamen gegen fünf Uhr morgens nach Hause. Er sagt: «Wir waren steinmüde und total auf der Schnurre.» Doch brachten sie kein Auge zu. Immer und immer wieder habe er die gleichen Bilder vor sich gehabt, die Aktion lief wie ein Film nochmals in ihm ab.
Die Steine liegen nun gereinigt und eingelagert in Kisten, sind Eigentum des Kantons Uri. Wie alle Mineralien, die der Gotthard preisgibt. Die schönsten Stücke kommen in eine Ausstellung, andere sind Teil eines Forschungsprojekts der Universität Genf, die anhand der Mineralien mehr über den Berg und seine Entstehung herausfinden will. Und einige Kristalle verkauft der Kanton an Sammler oder verschenkt sie als Andenken an die Mineure.
Einzelne Mineure stehlen Steine
Über das, was die Journalistin noch interessiert, lächelt Peter Amacher nur müde: den Wert des Funds. Er hat eine ungefähre Zahl im Kopf, rückt aber nicht raus damit. «Das weckt nur Begehrlichkeiten.» Er macht klar: «Strahlner», wie man im Kanton Uri sagt, wird man nicht aus Raffgier. Sondern aus Liebe zum Berg, zur Schönheit der Steine und aus Freude am Suchen. Drei Bücher hat er, der Erdwissenschaftler, darüber geschrieben. Das Strahlen hat er in seiner DNA. Begleitete schon als Bub seinen Onkel bei der Mineraliensuche. Und es zeigt sich auch vor dem Stollen-Rundgang in seinem Büro in Amsteg, als er einen kiloschweren Bergkristall vorsichtig aus einem Tuch wickelt, ihn von allen Seiten beäugt, wie ein Bub, der so etwas zum ersten Mal sieht, und sagt: «Schau dir dieses Masterpiece an. Dieses Feuer – er ist perfekt. So etwas schafft nur die Natur.»
Nun, auf seinem Rundgang am Abend, ist weniger Betrieb. Ausser der heiligen Barbara, die Bergbau-Schutzpatronin, guckt Amacher keine Seele über die Schulter, die Abendschicht-Arbeiter brechen zwei Kilometer vom Eingang entfernt mit der Tunnelbohrmaschine durch das Bergmassiv. Amacher kann frei reden. Darüber, was ebenfalls zu seinem Job gehört: die Aufsicht der Tunnelarbeiter. Drei Mal pro Tag fahren er und seine Leute mit Elektro-Trottinetts in den Stollen – und erleben manchmal Räubergeschichten. Diebstahl inklusive. Wie jener im Frühling.
Amacher sah vor dem Tunnel vier Proviantrucksäcke von Mineuren. «Ich weiss nicht, was mich geritten hat», sagt er und erzählt, wie er auf sie zusteuerte, «stinkfrech» jeden lupfte – und einen fast nicht vom Boden aufheben konnte. Er war mit Bergkristallen gefüllt. Deliktsumme: mehrere Tausend Franken. Der Mineur erhielt eine Verwarnung, beim zweiten Mal gibt es eine Anzeige. Beim Bau des Gotthard-Basistunnels kam es sogar zu Verurteilungen vor Gericht.
Amacher weiss: Damit macht er sich keine Freunde. Einige Mineure sagen wegen eines ähnlichen Vorfalls nicht mehr «Grüezi». Und einmal hatte sein E-Scooter einen platten Reifen, weil ein «Tubel!» grosse Bostitchklammern reingejagt hatte. Doch das gehört zum Job. Und könne man wieder kitten. Was es brauche: auf die Leute zugehen, reden. «Die Stimmung ist jetzt wieder besser.»
Seine Gallensteine liegen im Museum
Längst ist Amacher im Pensionsalter. Wie lange will er sich noch rumärgern? Wird er nach fünfzig Jahren strahlen und so vielen Jahren Gotthard irgendwann loslassen können? Wenn es gesundheitlich einmal nicht mehr gehe, sagt er, «problemlos».
So ganz nimmt man ihm das nicht ab. Im letzten Jahr hatte er mehrere Operationen. Einmal am Herzen, und am Tag nach der Entlassung aus dem Spital stand er schon wieder im Stollen. Und einmal holten die Doktoren vier Gallensteine raus, diese kleben nun in seinem Kristall-Museum im Keller seines Hauses als Exponat an der Wand.
Aufhören, geht das wirklich? Er bleibt dabei, erklärt, warum: «All die schönen Erlebnisse bleiben als Bilder in meinem Kopf.»