Darum nimmt Extremvelofahrer Gemperle die Strapazen auf sich
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«Vier Stunden Schlaf ist lang»:Darum nimmt Extremvelofahrer Gemperle die Strapazen auf sich

Ultraradfahrer Robin Gemperle
«Ich mache das zu 100 Prozent für mich»

Der Aargauer Robin Gemperle (27) wurde gerade Zweiter beim härtesten Velorennen Europas, dem Transcontinental Race. Knapp neun Tage lang war er fast nonstop im Sattel, radelte von Belgien nach Griechenland. Ein Gespräch über Schlaf, Charme und Emotionen unterwegs.
Publiziert: 20.08.2023 um 00:16 Uhr
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Aktualisiert: 22.08.2023 um 09:05 Uhr
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Nach 8 Tagen, 22 Stunden und 47 Minuten beendete Ultrabiker Robin Gemperle aus Aarau das Transcontinental Race 2023 als Zweiter.
Foto: Philippe Rossier

Sie haben Ende Juli 4000 Kilometer und 50'000 Höhenmeter allein und so rasch wie möglich auf dem Rad hinter sich gebracht. Die Frage drängt sich auf: Warum tun Sie das?
Robin Gemperle: Das bin ich noch am Herausfinden. Beim Ultracycling wird das Velo in seinem ursprünglichen Sinn eingesetzt: effizient, mit eigener Körperkraft so weit wie möglich zu fahren. Das fasziniert mich. Und ich bin gut darin.

Ein Preisgeld gibt es nicht für die Strapazen.
Das ist bei dieser Art von Rennen verpönt. Auch sonst lässt sich kaum etwas damit verdienen. Doch mit dem gegenwärtigen Bikepacking-Boom wird es wohl in ein paar Jahren auch Profis im Ultraradfahren geben.

Bikepacking?
Beim Bikepacking radelt man über mehrere Tage von A nach B, hat alles dabei, schläft häufig draussen.

Der Extrem-Velofahrer

Robin Gemperle (27) ist Ultraradfahrer: Er fährt Langdistanz-Rennen über Hunderte von Kilometern. Zudem studiert er an der ETH Architektur. In seiner Jugend war er Nachwuchsfahrer im Mountainbike-Team um Nino Schurter. Heute engagiert er sich in Aarau, wo er wohnt, auch im Kulturleben. Das 9. Transcontinental Race, der «heilige Gral» der Ultra-Rennen, hat er am 1. August 2023 als Zweiter beendet. Er brauchte 8 Tage, 22 Stunden und 47 Minuten für die Strecke. Sieger Christoph Strasser (A) war rund sechs Stunden schneller.

Philippe Rossier

Robin Gemperle (27) ist Ultraradfahrer: Er fährt Langdistanz-Rennen über Hunderte von Kilometern. Zudem studiert er an der ETH Architektur. In seiner Jugend war er Nachwuchsfahrer im Mountainbike-Team um Nino Schurter. Heute engagiert er sich in Aarau, wo er wohnt, auch im Kulturleben. Das 9. Transcontinental Race, der «heilige Gral» der Ultra-Rennen, hat er am 1. August 2023 als Zweiter beendet. Er brauchte 8 Tage, 22 Stunden und 47 Minuten für die Strecke. Sieger Christoph Strasser (A) war rund sechs Stunden schneller.

Alles dabei – aber im Gegensatz zu jenen, die Touren fahren, trotzdem kaum Gepäck.
Tourenfahrer mit ihren Saccochen sind gemütlich unterwegs. Bikepacking ist sportlicher, hipper, wir radeln oft fernab von üblichen Pfaden. Bei Bikepacking-Rennen ist das Gepäck nochmals reduziert: Statt Essen vom Gaskocher gibts Snickers; die Ersatzunterhose bleibt zu Hause, das Zelt ebenso.

Sie schlafen ungeschützt, wo es gerade passt?
Ich kann überall schlafen. Zu Beginn des Rennens waren es gut vier Stunden; das ist das Maximum, um in einem Rennen vorne mitzufahren.

Robin Gemperles Gravelbike mit dem Minimum an Gepäck für das 4000-Kilometer-Rennen.
Foto: Transcontinental / Liz Seabrook

Wie fühlen Sie sich während des Rennens?
Der Start hat nicht das klassische Rennfeeling; als Fahrer ballere ich nach dem Startschuss nicht voll los. Auch Zieleinfahrten sind häufig nicht emotional, weil vorher bereits über 300 Kilometer klar war, wie das Rennen in etwa herauskommt. Beim Ziel ist das schon verarbeitet. Ich empfinde aber beim Fahren Glücksgefühle.

Wann zum Beispiel?
Wenn ich allein unterwegs bin und merke: Es ist schon noch geil, dass ich acht, neun Tage lang nichts anderes mache als Velo fahren. Das ist ein riesiges Privileg, und ein weiterer Punkt, der mich anzieht: das radikale Fokussiertsein.

Woran denken Sie beim Trampen?
In einer entscheidenden Rennphase bin ich über mehrere Tage komplett fokussiert. Aber es gibt auch Strecken, in denen das Rennen nicht entschieden wird; 500 Kilometer, die einfach überbrückt werden müssen. Dann höre ich Podcasts, oder ein unbeantwortetes Mail kommt mir in den Sinn.

Ist Telefonieren erlaubt?
Angehörige wissen, dass sie keine Informationen zur Rennstrecke durchgeben dürfen, etwa über gesperrte Strassen oder Konkurrenten. Mentaler Support ist aber in Ordnung.

So funktioniert das Transcontinental Race

Das Transcontinental Race 2023 führte über eine Strecke von 4000 Kilometern von Belgien nach Griechenland. Start und Ziel sind für alle gleich, dazwischen gibt es vier Checkpoints, die innert einer bestimmten Frist erreicht werden müssen. Die Teilnehmenden planen ihre Route weitgehend selbst, haben das Nötigste dabei und sind allein, ohne Team und Unterstützung, unterwegs. Dank des Ortungsgeräts, das jede Fahrerin und jeder Fahrer mitführt, können Interessierte, die sogenannten Dot-Watchers, das Rennen verfolgen.

Das Transcontinental Race 2023 führte über eine Strecke von 4000 Kilometern von Belgien nach Griechenland. Start und Ziel sind für alle gleich, dazwischen gibt es vier Checkpoints, die innert einer bestimmten Frist erreicht werden müssen. Die Teilnehmenden planen ihre Route weitgehend selbst, haben das Nötigste dabei und sind allein, ohne Team und Unterstützung, unterwegs. Dank des Ortungsgeräts, das jede Fahrerin und jeder Fahrer mitführt, können Interessierte, die sogenannten Dot-Watchers, das Rennen verfolgen.

Marlen Reusser hat kürzlich ein WM-Zeitfahren abgebrochen und über mentale Schwierigkeiten gesprochen. Was sagen Sie dazu?
Es ist völlig klar, dass man im Leistungssport mental an Grenzen kommt. Diese Themen bekommen zu wenig Platz. Bei mir ist das anders: Ich habe weiterhin ein diverses Umfeld, in dem ich mentale Themen und Probleme ansprechen kann und Ventile habe. Aber ich glaube, dass dies gerade im Radsport ein grosses Problem ist.

Weshalb?
Sobald ein junges Velotalent entdeckt wird, wird diesem im Klub tagein, tagaus eingetrichtert: Du willst Veloprofi werden.

Sie sprechen aus Erfahrung.
Ja, das klingt nun schlimm, ist aber überhaupt nicht so. Nach meinen Ambitionen gefragt, hätte auch ich als junger Fahrer gesagt, ich wolle eine Olympiamedaille gewinnen. Mich ernsthaft gefragt, ob ich wirklich Profi werden will, habe ich mich lange nicht.

Robin Gemperle war als Teenager Nachwuchsfahrer im Mountainbike-Team um Nino Schurter.
Foto: Philippe Rossier

Als Sie 2022 erstmals das Transcontinental Race fuhren, hatten Sie eine grosse Fleischwunde am Gesäss, die so schmerzhaft war, dass Sie halluzinierten. Dann wurden Sie noch von einem Hund gebissen – und fuhren als Siebter ins Ziel. War Aufgeben nie eine Option?
Ich war bis heute noch nie gezwungen, ein Rennen aufzugeben. Inzwischen bin ich an einem Punkt, an dem ich weiss: Wenn ich starte, dann bin ich im Reinen mit dieser Herausforderung. Ich mache das zu 100 Prozent für mich. Darum gebe ich diese Rennen nicht auf. Ich will einfach ankommen.

Ihre Erfahrung als Leistungssportler verschafft Ihnen einen Vorteil in diesem Amateurumfeld.
Vor ein paar Jahren war Ultracycling ausschliesslich etwas für Freaks. Aktuell professionalisiert sich die Disziplin, bleibt aber eine Nischensportart. Die meisten, die wirklich vorne dabei sind, haben eine Vorgeschichte im Radsport. Ich selbst war Nachwuchsfahrer in einem Topteam, habe aber nie mein Geld nur mit Velofahren verdient.

Als Teenager galten Sie als Mountainbiking-Talent. Mit 20 haben Sie dem professionellen Radsport den Rücken gekehrt und über den Entschluss mal gesagt: «Ich hätte kein cooles Leben führen können.» Was heisst das?
Neben dem klassischen Radsport auf hohem Niveau hat nichts anderes Platz. Ich hatte aber und habe immer noch viele andere Interessen, die ich unbedingt ausleben wollte.

Beim Velofahren gehen Sie an Ihre Grenzen – und darüber hinaus. Gilt das auch für andere Lebensbereiche?
Nein. Ich finde es spannender, so viel wie möglich auszuprobieren, und mache lieber vieles halbbatzig und schaue, was daraus wird, als Sachen komplett auszureizen.

Die letzten 48 Stunden des Rennens haben Sie nicht geschlafen. Wo liegt der Unterschied zwischen an die Grenzen gehen und zu viel Risiko eingehen?
Ich habe ein ambivalentes Verhältnis zu Leistungssport generell. Was wir machen, ist auf keine Art und Weise gesund,und ja, es birgt ein grosses Risiko. Aber ich glaube, das bringt jede Sportart mit sich, wenn man sie auf hohem Niveau betreibt.

Sind Ihre Angehörigen in Sorge, wenn Sie Ultra-Rennen fahren?
Es bessert. Ich weiss, dass ich eine Verantwortung meinen Mitmenschen gegenüber habe. Ich habe genug Erfahrung, um zu spüren, wenn es nicht mehr geht. Merke ich, dass ich in einen Sekundenschlaf falle, halte ich an und mache einen Powernap.

Orientierung unterwegs: Wo ist die Konkurrenz? Wie weit bis zum nächsten Checkpoint?
Foto: Transcontinental / Liz Seabrook

Von 350 Fahrern und Fahrerinnen, die westlich von Brüssel an den Start gingen, erreichten nur 125 innert der Limite von 15 Tagen das Ziel in Thessaloniki. Was ist mit den anderen passiert?
Die meisten, die aufhören, schaffen es nicht, die Checkpoints innerhalb der vorgegebenen Zeit zu erreichen. Hinzu kommen technische Defekte und Übermüdung. Es gibt trotz allem wenig Unfälle.

Sie haben in den ersten 25 Stunden des Rennens nur dreimal je fünf Minuten Pause gemacht. Was passiert in diesen fünf Minuten?
Essen holen. Vielleicht pinkeln.

Robin Gemperle betritt im Nordwesten Montenegros ein Nahrungsmittelgeschäft.
Foto: Transcontintenal / Liz Seabrook

Sie essen also auf dem Rad?
Es ist simpel. Ich esse so viel, wie irgendwie geht. Ich esse eigentlich immer. Im Supermarkt beginne ich schon im Laden zu trinken, die Packungen kommen dann leer aufs Band. Beim Hinausgehen esse ich schon.

Wie reagieren die Leute?
Man kann das charmant überspielen. Ich sage jeweils, sorry, bin am Verdursten. Das kann jedem Velofahrer auf der Sonntagstour auch passieren. Gegen Ende des Rennens wird mein Äusseres richtig übel. Doch dann verhindert die Sprachbarriere jegliche Kommunikation.

Wie sehen Sie dann aus?
Ich trage Merinokleider; das sorgt dafür, dass die Körpergerüche nicht so stark werden. Wenn man sieben, acht Tage draussen ist, hat man nichts mehr an seinen Taschen oder am Körper, das nicht fettig ist. Zum Beispiel kann ich meine Brille nicht mehr putzen, weil ich kein Stück Stoff habe, das imstande wäre, mehr zu machen als zu verschmieren. Das ist noch lustig. Bei mir häutet sich meistens die Nase. Ich habe oft Nasenbluten, mein Trikot ist am Ärmel voll Blut.

Wie viel von der Umgebung nehmen Sie während des Rennens wahr?
Die Veränderung von Westeuropa in den Balkan – landschaftlich, kulturell, zwischenmenschlich – nehme ich viel intensiver wahr, wenn ich die Strecke innert zwei, drei Tagen durchfahre, als wenn sie auf eine Woche verteilt wäre.

Robin Gemperle ausserhalb von Ioannina im Nordwesten von Griechenland.
Foto: Transcontinental / Liz Seabrook

Was war das Highlight?
Verschiedenes. Festzustellen, dass ich das Niveau habe, das ich erwartet habe. Dann war ich der Erste, der in der Schweiz die Route durch das Val Mora auf Schottergrund gewählt hat, während mein österreichischer Konkurrent Christoph Strasser drei Stunden verloren hat am Umbrailpass. Den Nationalpark Durmitor in Montenegro habe ich in goldenem Licht durchfahren. Geil war auch der Souvlaki-Stand direkt nach der griechischen Grenze. Endlich wieder mal was Warmes essen! Ich habe fünf bestellt, zwei direkt gegessen und drei ins Trikot gestopft. Ich wusste: Ich habe ausgesorgt für die Nacht.

Wie schwierig ist es, nach einer solchen Erfahrung wieder in Ihr Leben als Architekturstudent einzusteigen?
Das ist eine kritische Frage. Mein Sieg im Februar beim Atlas Mountain Race in Marokko führte zu einem schlagartigen Anstieg an Interesse an meiner Person. Das redet man immer klein. Aber eigentlich ist es huere geil. Nach meiner Rückkehr ging das Semester wieder los, da bin ich eine Nummer unter ganz vielen anderen Studierenden. Das führte zu einer rechten Krise bei mir. Es klingt eitel, aber ich hoffe, es ist nachvollziehbar.

Und diesmal?
Diesmal fand eine Battle statt zwischen Christoph Strasser und mir. Wir zeigten, dass man einander über 4000 Kilometer wirklich ärgern und ein Rennen fahren kann. Ich bin mir bewusst, dass ich in ein Loch fallen könnte. Ich gehe es relativ entspannt an. Und ich trainiere schon für das nächste Rennen im September.

Wo wird das sein?
In Südspanien, es heisst Badlands. Es führt durch die einzige Wüste, die es in Europa gibt. Es könnte cool sein, auch wenn es für mich eher zu kurz ist: 700 Kilometer.

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