«Meine Leidenschaft sind die Berge»
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Géraldine Fasnacht:«Meine Leidenschaft sind die Berge»

Extremsportlerin Géraldine Fasnacht Interview
«Ich würde meinem Sohn nie erlauben, Motorrad zu fahren»

Die Walliser Profisportlerin Géraldine Fasnacht (42) über die Schönheit des Fallens, was ihr am meisten Angst macht und weshalb sie Snowboarden für gefährlicher hält als Wingsuit-Fliegen.
Publiziert: 07.05.2023 um 09:32 Uhr
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Aktualisiert: 08.05.2023 um 09:56 Uhr
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Hauptsache Nervenkitzel: Die Walliser Extremsportlerin Géraldine Fasnacht brettert mit dem Snowboard steilste Hänge hinab und fliegt mit dem Wingsuit durch die Berge.
Foto: Lea Ernst
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Lea ErnstRedaktorin Gesellschaft

Über uns ragen schroffe Kalksteinzacken in den Himmel. Paraglider ziehen mit ihren bunten Schirmchen Spiralen durch die letzten Sonnenstrahlen, ein Mountainbiker schiebt sein Velo an unserem Tisch vorbei. Wir sitzen in einem Café im Unterwalliser Dorf Le Châble VS. Géraldine Fasnacht wohnt etwas weiter oben in Verbier.

Frau Fasnacht, wann sind Sie zum ersten Mal von einem Berg gesprungen?
Géraldine Fasnacht: Das war vor 22 Jahren. Ich stieg auf einen Gipfel mit einer überhängenden Klippe, 250 Meter hoch. Ich erinnere mich genau, die Natur war wunderschön. Dann sprang ich, gleich neben einem Wasserfall. Ich sah die Wassertropfen im gleichen Tempo fallen wie ich. Ein unglaubliches Erlebnis.

Hat man dabei tatsächlich noch Zeit, sich umzuschauen?
Und wie! Beim Sprung ist die Zeit eine andere. Eine Sekunde wird zur Ewigkeit – man nimmt jedes Detail wahr. Als ich meinen Fallschirm öffnete, wusste ich: Das ist es.

Ihre neue Leidenschaft.
Genau. Ich war damals auf der Suche nach einem Sport, der es mir nach Ende der Snowboardsaison erlaubte, auch den Sommer über in den Bergen zu trainieren, und der mir ebenso gut gefiel wie das Freeriding. Ich hatte schon 300 Sprünge aus dem Flugzeug und viel Training hinter mir.

Die Vogelfrau

Sie brettert über steilste Schneewände und fliegt wie ein Vogel durch die Lüfte: Seit 2002 steht die Walliser Profisportlerin Géraldine Fasnacht (42) an der Spitze des Extremsports. Als jüngste Siegerin überhaupt gewann sie mit 21 Jahren das Verbier Xtreme, das grosse Finale der Freeride World Tour. Es folgten zahlreiche nationale und internationale Siege. Als Wingsuit-Pilotin wagte sie 2014 den ersten Sprung vom Matterhorn überhaupt – er machte sie weltberühmt. An Konferenzen spricht Géraldine Fasnacht regelmässig über Risikomanagement. Sie wohnt mit ihrer Familie in Verbier VS.

Sie brettert über steilste Schneewände und fliegt wie ein Vogel durch die Lüfte: Seit 2002 steht die Walliser Profisportlerin Géraldine Fasnacht (42) an der Spitze des Extremsports. Als jüngste Siegerin überhaupt gewann sie mit 21 Jahren das Verbier Xtreme, das grosse Finale der Freeride World Tour. Es folgten zahlreiche nationale und internationale Siege. Als Wingsuit-Pilotin wagte sie 2014 den ersten Sprung vom Matterhorn überhaupt – er machte sie weltberühmt. An Konferenzen spricht Géraldine Fasnacht regelmässig über Risikomanagement. Sie wohnt mit ihrer Familie in Verbier VS.

Was ist der Unterschied zwischen Skydiving und Basejumping?
Beim Skydiving aus dem Flugzeug legt sich der Körper wegen des Relativwinds sofort auf ein Luftkissen. In den ersten drei Sekunden spürt man nur ganz wenig, dass man fällt. Beim Basejumping springt man von festen Objekten – weil man dabei keinen Relativwind hat, muss man den fehlenden Halt in der Luft mit guter Körperbalance ausgleichen. Bei beiden Luftsportarten landet man mit Fallschirm.

Aber im Wingsuit fallen Sie nicht. Sie stürzen sich wie ein Flughörnchen in die Tiefe.
Mein Wingsuit ist eine Zusatzausrüstung. Ein Anzug mit Flügeln, die sich im Flug mit Luft füllen. Er ermöglicht mir, auch in der Horizontalen und in einer Flugbahn zu fliegen, bevor ich den Fallschirm ziehe.

Letzten Sommer sprang ich von einer Eisenbahnbrücke aus nicht mal fünf Metern in einen Fluss. Ich hatte furchtbar Schiss und fühlte mich, als würde ich in den Tod springen. Haben Sie das auch?
Ja, aber nur bei Wasser. Deshalb springe ich nicht einmal in einen Pool. Beim Basejumping ist das anders: Wenn man springt, dann fliegt man. Doch dazu braucht es zuerst so viel Training wie möglich. Nicht mit Youtubevideos – man muss es erleben, beim Fallschirmspringen oder im Windkanal lernen, wie sich der Körper in der Luft reagiert. Sich in der Luft kontrolliert zu bewegen, ist unglaublich schwierig. Beim Basejumping gibt es keinen Raum für Fehler.

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Ist das nicht ein enormer Druck? Wenn ich mir so überlege, wie viele Fehler in anderen Berufen tagtäglich passieren.
Es ist viel Verantwortung. Wenn man nicht perfekt darauf vorbereitet ist, sollte man unbedingt am Boden bleiben. Man muss in absoluter Top-Form sein, die Natur kennen und Luft und Wetter perfekt analysieren können. Zum Training gehört auch, auf alle unvorhergesehenen Ereignisse einen Plan B, C und D zu haben. Hat man das nicht, gerät man in Panik und macht Fehler – die tödlich enden können. Spüre ich auch nur das kleinste bisschen Unsicherheit, springe ich nicht.

Also geht es weniger um das Überwinden Ihrer Angst?
Nein. Es ist wie in vielen Situationen im Leben: Man sollte sich erst wagen, etwas zu tun, wenn man sich wirklich dazu bereit fühlt. Ist das nicht der Fall, muss man den Mut aufbringen, Nein zu sagen. Auch wenn man sich schon lange auf den Sprung gefreut hat, alles vorbereitet hat und viele Stunden einen Berg hochgeklettert ist.

Ihr Zuhause sind die Berge. Aufgewachsen sind Sie jedoch bei Lausanne.
Richtig. Meine Eltern waren vernarrt ins Skifahren, wir gingen jede Ferien und an den Wochenenden nach Verbier. Irgendwann hatte ich dort gleich viele Freunde wie «unten». Meine Eltern wollten jeweils vor dem Feierabendverkehr wieder zurück nach Hause fahren. Doch ich kam viel zu spät von der Piste zurück, weil ich Verbier nicht verlassen wollte. Im Auto weinte ich dann. Meine Eltern hatten es nicht leicht mit mir (lacht).

Also beschlossen Sie, nach Verbier zu ziehen.
Nicht direkt, zuerst wohnte ich ein paar Jahre in Lausanne und arbeitete am Genfer Flughafen. Ich liebte die Arbeit dort, trotzdem kündigte ich eines Tages, um mehr Zeit für das Freeride-Training zu haben.

Wie kam das bei Ihren Eltern an?
Mein Vater sprach drei Monate nicht mit mir. Ich hatte einen guten Job, den ich liebte, an den Nagel gehängt, um zu snowboarden. Wieso, konnte ich nicht erklären. Doch ich wusste, dass es richtig war. Also zog ich in ein Studio in Verbier, trainierte jeden Morgen. Nachmittags arbeitete ich im Reisebüro, bis Mitternacht in einer Pizzeria. Damals hatte ich noch keine Sponsoren. Im gleichen Jahr gewann ich das Finale des Verbier Xtreme, das grosse Finale der Freeride World Tour – die grösste Freeride-Tour überhaupt und der extremste Wettbewerb der Welt. Mein Papa freute sich so sehr für mich, dass er in Tränen ausbrach. Er hatte meine Entscheidung verstanden.

Vermissen Sie die Stadt manchmal?
Überhaupt nicht. Ich habe gern in Lausanne gewohnt, aber ich mag es, wenn es ganz still ist und ich die Berge geniessen kann. Jetzt gerade ist es besonders schön, der Frühling blüht, alles ist so grün. Komme ich aus meinem Haus, stehe ich mitten in der Natur. Ich würde niemals mehr von Verbier wegziehen.

Wovor haben Sie mehr Respekt, vor dem Snowboard oder dem Wingsuit?
Eindeutig vor dem Freeriden. Du kannst die beste Snowboarderin oder der beste Bergführer der Welt sein: Schnee bleibt Schnee, man kann ihn niemals zu 100 Prozent kennen. Eines Tages kann man sich irren und in eine Lawine geraten.

Sie stellen immer wieder bahnbrechende Rekorde auf. Trotzdem mögen Sie die Bezeichnung «extrem» nicht. Wieso nicht?
Extrem ist für mich, wenn man etwas tut, wofür man nicht genügend vorbereitet ist. Wenn man Angst hat, das Gefühl hat, dass einem etwas passieren kann. Aber klar, für jemanden mit einem Bürojob mag mein Job extrem scheinen.

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Was macht Ihnen Angst?
Das Fahrradfahren in der Stadt. Ich fahre nie mit dem Velo auf Strassen, wo Autos fahren – geschweige denn Motorräder.

Wegen der Autos?
Genau, ich habe Angst, dass sie mich nicht sehen oder die Leute abgelenkt sind. Das ist für mich «extrem» und zu unberechenbar. Dieser Gefahr will ich mich nicht aussetzen.

Sie haben Menschen an die Berge verloren, die Ihnen sehr nahestanden. Ihr Mann stürzte 2006 beim Speedflying mit dem Gleitschirm ab. 2016 wurde Ihre Freeride-Schülerin vor Ihren Augen von einer Lawine in den Tod gerissen. Hatten Sie danach Angst, wieder zu springen oder aufs Snowboard zu stehen?
Ja, es war schwer, nach solch harten Schlägen wieder aufzustehen. Aber ich verlor Menschen, die mir sehr nahestanden, auch bei Autofällen oder an schrecklichen Krankheiten. Ihre starken Schmerzen zu sehen, war für mich fast unaushaltbar. Ich sage keinesfalls, dass es besser ist, meine Liebsten in den Bergen zu verlieren. Aber ich bin froh, dass sie bis zum letzten Moment glücklich waren und das tun konnten, was sie am allerliebsten tun.

Auch Ihr heutiger Mann Simon Fasnacht ist Basejumper. Vor drei Jahren sind Sie beiden Eltern geworden. Wie hat sich diese neue Rolle auf Ihren Beruf ausgeübt?
Viele Freunde fragten mich, ob ich damit aufhöre, sobald ich Mutter bin. Ich sagte: Das weiss ich nicht. Ich muss erst sehen, wie es sich anfühlt, wenn ich dieses kleine Baby in meinen Armen halte.

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Und?
Ich habe beschlossen, keine neuen Klippen mehr zu eröffnen. So sagt man, wenn man von einem Berg springt, von dem noch niemand gesprungen ist. Das tat ich früher andauernd und an vielen Orten der Welt. Doch es braucht viel Zeit, teils war ich tagelang unterwegs, um neue Gipfel zu finden, zu trainieren, den Berg und die Distanzen für den Sprung zu analysieren. Ich will nicht so lange von meinem Sohn wegbleiben. Wir geniessen die Berge lieber gemeinsam.

Wie fänden Sie es, wenn er ebenfalls basejumpen will?
Nun, sagen wir es so: Ich würde es eher begrüssen, wenn er Golfer oder Tennisspieler wird (lacht). Aber natürlich wünsche ich mir für ihn, dass er seine Leidenschaft findet. Und wenn das die Berge sind, werde ich ihn dabei unterstützen. Das Einzige, was ich nicht erlauben würde, wäre Motorrad zu fahren. Ich glaube, ich müsste sterben vor Angst um ihn.

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