Sie wollte ihren Bruder in Teheran besuchen. Einige Strähnen ihrer Haare schauten unter ihrer Kopfbedeckung hervor. Kurze Zeit später war sie tot. Jina Mahsa Amini.
Ein Jahr ist es her, seit die 22-jährige Kurdin von der iranischen Sittenpolizei verhaftet und später ermordet wurde. Im Iran ist seither die wohl erste feministische Revolution der Geschichte im Gange, sagen Iran-Kennerinnen, Forscher und Menschenrechtsorganisationen.
Wer war die Frau, die diese Revolution auslöste? Wie tragen die Menschen ihr Andenken weiter auf die Strassen?
Jina Mahsa Amini wurde am 21. September 1999 geboren, in Saqqez, einer mehrheitlich von Kurdinnen und Kurden bewohnten Stadt im westlichen Teil Irans. Die Eltern tauften das Kind auf den Namen Jina, was übersetzt so viel heisst wie «Leben» oder «Leben spendend».
Mahsa habe sie niemand genannt, sagte einer ihrer Cousins dem Nachrichtenmagazin «Spiegel». Diesen Namen führte sie, weil ihr kurdischer in ihrem iranischen Personalausweis nicht zulässig war.
Sie wollte studieren und führte ihr eigenes Geschäft
Sie sei ein sanftes Mädchen gewesen, erzählt ein anderer Cousin der deutschen Zeitung «taz», gleichzeitig unabhängig. «Sie war gerne auf Reisen, liebte es, Gäste zu haben, mochte Musik, Theater und Kunst. Sie tanzte gerne, auch auf Partys.»
Bereits führte sie ihr eigenes Modegeschäft, die «Best Boutique». Nach der Matura wollte sie studieren. Biologie. Kurz vor ihrem Tod fuhr sie die Universität im Nordwesten Irans besuchen, an der sie einen Studienplatz erhalten hatte.
Diese Reise führte Jina Mahsa Amini später nach Teheran zu Verwandten. Am 13. September war sie unterwegs mit der Metro. Ein Bild, das ihre Cousine später auf Instagram postete, zeigt sie in einem schwarzen Umhang und mit Kopftuch.
«Tödliche Fahrt» mit dem Van zur Polizeistation
Die Haarsträhnen, die darunter hervorschauten, waren Grund genug für die Sittenpolizei, die junge Frau kurze Zeit später zu verhaften und in einen weissen Van zu zerren. Die «Times» spricht von einer «tödlichen Fahrt». Unterwegs wurde sie auf den Kopf geschlagen, wie Recherchen der britischen Zeitung zeigen. Weniger als eine Stunde später zeichnet die Überwachungskamera der Polizeistation auf, wie Jina Mahsa Amini zusammenbricht. Ein Krankenwagen bringt sie ins Spital. Viel zu spät.
Drei Tage später, am 16. September 2022 stirbt Jina Mahsa Amini. Das Regime sagt, an einem Herzinfarkt aufgrund einer Vorerkrankung. Für ihre Familie und viele andere steht fest: Es war Gewalt, ein staatlicher Femizid.
Proteste von historischem Ausmass
«Steh auf, Jina! Die Leute sind für dich gekommen!», soll ihr Mutter am Tag darauf am Sarg ihrer Tochter gesagt haben. Tausende versammeln sich im kurdischen Saqqez, um Abschied zu nehmen. An ihrer Beerdigung rufen Frauen auf kurdisch «Jin, Jiyan, Azadî». Bald ertönt die Parole auch auf persisch im ganzen Land und darüber hinaus – «Zan, Zendegi, Azadi». «Frau, Leben, Freiheit».
In den kommenden Tagen, Wochen, Monaten erfassen den Iran Proteste von lange nicht gekanntem Ausmass. An der Spitze stehen Frauen, die in den Strassen ihre Kopftücher verbrennen, ihre Haare abschneiden, Anti-Regime-Graffitis an Hauswände sprayen. Männer solidarisieren sich. Bald brennen Bilder der geistlichen Führer, Schülerinnen verjagen Basij-Milizen, Studierende singen Protestlieder, in der Nacht rufen Leute Parolen von ihren Balkonen, marschieren durch Quartiere. Fussgänger und Motorradfahrer schlagen Geistlichen Turbane vom Kopf. Die Menschen tun, was in der Öffentlichkeit verboten ist: zusammen tanzen, singen, Hunde spazieren führen, kurze Hosen tragen. Und vor allem: ohne Kopftuch nach draussen gehen.
Dokumentarfilm
«‹Woman, Life, Freedom!› – Ein Jahr Proteste im Iran», von Majed Neisi
In drei Kapiteln erzählt dieser Dokumentarfilm die Geschichte junger Menschen, die im Iran nach dem Tod von Jina Mahsa Amini auf die Strasse gingen. Aus über 100 Stunden verifiziertem Filmmaterial rekonstruiert Regisseur Majed Neisi ihre Geschichten – und auch, wie das Regime einige von ihnen folterte und ermordete. Zu Wort kommen Angehörige und Aktivistinnen, die teils im Exil leben. Der Originaltitel des Films lautet «Inside the Iranian Uprising» – er geht auch unter die Haut und ist ein eindrückliches Zeitzeugnis vom Mut der iranischen Frauen und ihren Verbündeten. Zu sehen bei SRF.
Podcast
«Das Iran Update»
Erst haben sich die Iran-Expertinnen Gilda Sahebi und Sahar Eslah vor allem über Social Media zu den Protesten nach Jina Mahsa Aminis Tod geäussert. Bald aber entstand ein wöchentlicher Podcast, in dem sie besprechen, was rund um die Proteste im Iran passiert, ordnen die Geschehnisse ein, diskutieren Stimmen von anderen Expertinnen und Journalisten. Alle Folgen gibt es hier oder in den gängigen Podcast-Apps.
Sachbücher
Gilda Sahebi, «Unser Schwert ist Liebe», S. Fischer, 2023
Der Buchtitel stammt aus einem iranischen Raplied. Gilda Sahebi schreibt, dass das der Kern der Proteste sei – dass die Menschen wüssten, wofür sie kämpfen. Die Autorin und Journalistin analysiert die aktuellen Proteste und wie das Regime seit Jahren die iranische Bevölkerung unterdrückt. Sie lässt auch eigene Kindheitserinnerungen einfliessen und interviewt Aktivistinnen und Expertinnen. Sie beleuchtet unter anderem den kurdischen Widerstand, sexualisierte Gewalt und das Leben im Exil. Mehr dazu hier.
Düzen Tekkal und Natalie Amiri, «Die mutigen Frauen Irans», Elisabeth Sandmann Verlag, 2023
Die beiden Journalistinnen lassen 15 Frauen im Iran und im Exil aus ihrem Leben erzählen. Unter ihnen sind Künstlerinnen, Anwältinnen, Richterinnen, Autorinnen, Schachmeisterinnen. Eine der Frauen schmuggelte Texte aus dem berüchtigten Ewin-Gefängnis, andere wissen, dass sie auch im Ausland nicht sicher sind vor dem Regime, wenn sie ihre Stimme erheben. Sie erzählen von Begegnungen mit der Sittenpolizei, Gewalterfahrungen, die schwierigen wirtschaftlichen Umstände. Aber sie sprechen auch über Hoffnung und den Willen, für eine bessere Zukunft zu kämpfen. Mehr dazu hier. (hie)
Dokumentarfilm
«‹Woman, Life, Freedom!› – Ein Jahr Proteste im Iran», von Majed Neisi
In drei Kapiteln erzählt dieser Dokumentarfilm die Geschichte junger Menschen, die im Iran nach dem Tod von Jina Mahsa Amini auf die Strasse gingen. Aus über 100 Stunden verifiziertem Filmmaterial rekonstruiert Regisseur Majed Neisi ihre Geschichten – und auch, wie das Regime einige von ihnen folterte und ermordete. Zu Wort kommen Angehörige und Aktivistinnen, die teils im Exil leben. Der Originaltitel des Films lautet «Inside the Iranian Uprising» – er geht auch unter die Haut und ist ein eindrückliches Zeitzeugnis vom Mut der iranischen Frauen und ihren Verbündeten. Zu sehen bei SRF.
Podcast
«Das Iran Update»
Erst haben sich die Iran-Expertinnen Gilda Sahebi und Sahar Eslah vor allem über Social Media zu den Protesten nach Jina Mahsa Aminis Tod geäussert. Bald aber entstand ein wöchentlicher Podcast, in dem sie besprechen, was rund um die Proteste im Iran passiert, ordnen die Geschehnisse ein, diskutieren Stimmen von anderen Expertinnen und Journalisten. Alle Folgen gibt es hier oder in den gängigen Podcast-Apps.
Sachbücher
Gilda Sahebi, «Unser Schwert ist Liebe», S. Fischer, 2023
Der Buchtitel stammt aus einem iranischen Raplied. Gilda Sahebi schreibt, dass das der Kern der Proteste sei – dass die Menschen wüssten, wofür sie kämpfen. Die Autorin und Journalistin analysiert die aktuellen Proteste und wie das Regime seit Jahren die iranische Bevölkerung unterdrückt. Sie lässt auch eigene Kindheitserinnerungen einfliessen und interviewt Aktivistinnen und Expertinnen. Sie beleuchtet unter anderem den kurdischen Widerstand, sexualisierte Gewalt und das Leben im Exil. Mehr dazu hier.
Düzen Tekkal und Natalie Amiri, «Die mutigen Frauen Irans», Elisabeth Sandmann Verlag, 2023
Die beiden Journalistinnen lassen 15 Frauen im Iran und im Exil aus ihrem Leben erzählen. Unter ihnen sind Künstlerinnen, Anwältinnen, Richterinnen, Autorinnen, Schachmeisterinnen. Eine der Frauen schmuggelte Texte aus dem berüchtigten Ewin-Gefängnis, andere wissen, dass sie auch im Ausland nicht sicher sind vor dem Regime, wenn sie ihre Stimme erheben. Sie erzählen von Begegnungen mit der Sittenpolizei, Gewalterfahrungen, die schwierigen wirtschaftlichen Umstände. Aber sie sprechen auch über Hoffnung und den Willen, für eine bessere Zukunft zu kämpfen. Mehr dazu hier. (hie)
Längst ist klar: Es geht um mehr als das Kopftuch. Die Journalistin und Iran-Expertin Natalie Amiri sagt 2022 in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger»: «Der Tod dieser jungen Frau, Mahsa Amini, steht für die gesamte Unterdrückung der letzten 42 Jahre der Machtelite gegen die Bevölkerung.»
Unerbittliche Gewalt durch das Regime
Entsprechend nervös und brutal reagiert das Regime. Über 500 Demonstrierende werden getötet, unter ihnen auch Jugendliche und Kinder. Tausende werden verhaftet, geschlagen, gefoltert, viele vergewaltigt. Im November 2022 fällt das Regime das erste Todesurteil im Zusammenhang mit den Protesten nach Mahsa Aminis Tod. Die erste Hinrichtung folgt im Dezember.
«Ich wünschte, ich wäre der Einzige, der nach dieser Tragödie trauert», sagt Aminis Vater im Frühjahr zum Onlineportal «Iran Wire». Ihre Mutter schreibt auf Social Media: «Jina ist zur Botschafterin der Freiheit der Frauen und der Hoffnung für jeden Mann und jede Frau geworden.» Und die Menschen sind nicht bereit, diese Hoffnung aufzugeben. Der Widerstand gegen das Regime hält an. Frauen ohne Kopftuch gehören in Teheran mittlerweile zum Strassenbild.
Sittenpolizei rüstet auf
Doch auch die Gewalt des Regimes ist ungebrochen und nimmt vor dem ersten Todestag zu. Die Nachrichtenagentur AFP berichtet, dass vermehrt Kritikerinnen und Kritiker festgenommen werden. Laut Amnesty International werden Angehörige von während den Protesten Getöteten von den iranischen Behörden schikaniert und eingeschüchtert. Dem Anwalt von Aminis Familie wird aktuell der Prozess gemacht, wegen «Propagana gegen das System». Und bereits im April verkündete die iranische Polizei, dass sie im öffentlichen Raum Kameras zur Überwachung der Frauen installieren würden.
Jina Mahsa Aminis Mutter schreibt in diesen Tagen auf Instagram zu einem Foto ihrer Tochter: «Leuchte noch einmal du Sonnenschein das Heim an.» Und weltweit machen sich Menschen auf, um an diesem 16. September erneut auf die Strasse zu gehen. Auf Jina Mahsa Aminis Grab steht: «Geliebte Jina, du stirbst nicht. Dein Name wird ein Symbol werden.»
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