«Wir kämpfen, wir sterben, wir ertragen keine Erniedrigung.» Diese Rufe hallen am Donnerstag durch Karadsch, eine Stadt nahe der iranischen Hauptstadt Teheran. Tausende Frauen und Männer protestieren vierzig Tage nach dem Tod von Hadis Nadschafi (†22), die laut Berichten im September erschossen worden ist. Im Islam ist eine Trauerzeit von vierzig Tagen üblich. Sicherheitskräfte schiessen und setzen Tränengas gegen die Demonstrierenden ein. Mindestens zwei Menschen werden bei den Protesten getötet, zahlreiche verletzt.
Bereits am Sonntag kam es zu Ausschreitungen. Zahlreiche Bewohner des Wohnkomplexes Shahrak Ekbatan im Westen Teherans haben über Wochen demonstriert, vor allem jüngere. Immer wieder war «Tod dem Diktator» oder «Frau, Leben, Freiheit» zu hören gewesen. Die Sicherheitskräfte haben äusserst hart durchgegriffen: Sie haben die Leute geschlagen, zu Boden getreten oder Tränengas gegen sie eingesetzt. Nachdem ein Mann aus den Reihen der Sicherheitskräfte getötet worden war, eskalierte die Situation. Wahllos schlugen Sicherheitskräfte Fenster ein, schossen in Menschenmengen und warfen Leute zu Boden, darüber hinaus verschleppten sie Demonstrierende zu Arrestzentren.
Mindestens 250 Leute tot, über 10’000 verhaftet
Dies sind nur zwei von zahlreichen Protesten im ganzen Land. Nach dem Tod von Mahsa Amini (†22) Mitte September, die bei einem Einsatz der iranischen Sittenpolizei wegen «nicht sittenkonformen» Tragens ihres Schleiers sterben musste, forderten zuerst Frauen eine Lockerung der Kleiderordnung. Mittlerweile verlangen aber auch Männer und Angehörige sämtlicher sozialer Schichten den Sturz des Regimes unter Staatspräsident Ebrahim Raisi (61). Laut Menschenrechtsorganisationen sind bei den Protesten mindestens 250 Menschen gestorben, über 10’000 wurden verhaftet.
Hamid Hosravi, wissenschaftlicher Angestellter am Asien-Orient-Institut der Universität Zürich, sagt zu Blick: «Der Iran befindet sich an der Schwelle einer Revolution.» Wobei diese bereits in einigen Monaten oder auch erst Jahren stattfinden könne. «Unvorhergesehene Ereignisse können den Verlauf beschleunigen.» Immer mehr Schülerinnen und Schüler sowie Studentinnen und Studenten schliessen sich laut Hosravi der Bewegung an. Auch in ärmeren Vierteln der Grossstädte, früher eine Hochburg der Regimeanhänger, komme es zu massiven Demonstrationen. «Wenn das Regime gewaltsam eingreift, sehen wir, dass die Protestierenden am nächsten Tag wieder auf die Strasse gehen.» Hosravi: «Wenn das so weitergeht und sich noch mehr Menschen den Protesten anschliessen, ist das der Beginn einer grossen Veränderung.»
«Die Eliten sind in einer Notsituation»
Gemäss Hosravi gibt es innerhalb der Staatsklassen «erste Risse». Das sei etwa bei Diskussionen im staatlichen Fernsehen zu beobachten, wo sich die Teilnehmenden gegenseitig Vorwürfe machen würden. «Die Mullah-Elite ist offensichtlich selbst in einer Notsituation.»
Die Krux, so Wissenschafter Hosravi: «Das Regime will keinen Schritt zurückweichen, da es um den Dominoeffekt weiss, den das nach sich ziehen würde.» Gleichzeitig wollten die Demonstrierenden nicht im Status quo bleiben. «Sie sehen keine Chance für ihre Zukunft, sie haben keine Freiheit.» Denn sie könnten sich weder kleiden, wie sie wollten, noch Musik hören oder tanzen. Und: «Sie sehen, dass das Land von unfähigen Mullahs besetzt ist und dieses System die nationalen Interessen überhaupt nicht berücksichtigt.»
Hinzu kämen eine desolate Wirtschaftslage, die Inflation und Arbeitslosigkeit. Hosravi: «Je mehr das Regime versucht, repressiv vorzugehen, desto stärker werden die Protestierenden antworten.» Für sie gebe es kein Zurück, denn sie wüssten, dass das Regime sie ins Gefängnis stecken, verfolgen oder töten werde. «Die Unterstützung und Solidarität der Iranerinnen und Iraner in der Diaspora macht ihnen Mut.»