Blick-Redaktorin berichtet über den Freitod ihrer 81-jährigen Mutter
Meine Mutter hat beschlossen, zu sterben

Als ihre Mutter Erna selbstbestimmt mit Unterstützung von Exit starb, war Blick-Redaktorin Katja Richard an ihrer Seite. Sie lässt uns teilhaben an ihren Gedanken im Vorfeld, an den Ereignissen am Tag des Todes – und an ihren Gefühlen.
Foto: Privat
Sterbehilfe mit Exit: Tochter erzählt von den letzten Minuten ihrer Mutter

Auf einen Blick

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Katja RichardRedaktorin Gesellschaft
Publiziert: 07.12.2024 um 15:53 Uhr
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Aktualisiert: 07.12.2024 um 16:21 Uhr

Die Frau, die den Tod mitbringt, ist eine diskrete Erscheinung. Komplett in Blautöne gekleidet, das Haar kurz und grau, in der Hand ein Köfferchen. Niemand würde ahnen, dass darin ein Narkosemittel ist, so hoch dosiert, dass es zum Tod führt. Susanna Schmid (75) ist Freitod-Begleiterin von Exit. Es ist der 6. Juni 2023.

Meine Mutter hat beschlossen, zu sterben. Erna ist 81 und sitzt seit drei Jahren im Rollstuhl. An ihrem Körper kleben mehrere Fentanylpflaster. Aber auch die Opiate können ihre unerträglichen Schmerzen nicht ganz betäuben. Schmerzen begleiten sie schon ein Leben lang, starke Migräne und Rückenweh. Sie hat sich immer zusammengerissen, sich nichts anmerken lassen. Und sie war trotzdem immer für uns Kinder da, der Haushalt tipptopp. Es gab keinen Morgen, an dem sie nicht um 6.30 Uhr aufgestanden ist, sich geduscht, die Haare gemacht und sich geschminkt hat. Mami schaute immer aus wie aus dem Truckli. So sagt man das auf Berndeutsch, wo wir herkommen.

Immer hübsch zurechtgemacht: meine Mutter als junge Frau in einem selbst genähten Kleid.
Foto: Privat

Wie verbringt man die letzten Lebenswochen?

Zehn Tage vor dem Tag, an dem sie selbstbestimmt sterben wird, lädt sie mich, meine Schwester und meinen Bruder zu Kaffee und Kuchen ein. Auch an diesem Tag ist sie schön zwäggemacht, mit Hilfe ihres Lebenspartners René, der sie rund um die Uhr pflegt. Sie kann ihren rechten Arm nicht mehr richtig bewegen, ihre Lähmungen sind über die letzten Monate schlimmer geworden. Sie sagt zu mir: «Weisst du, jetzt kann ich nicht mal mehr stricken. Und schminken kann ich mich auch nicht mehr.»

Zu ihren chronischen Schmerzen kamen vor zehn Jahren weitere Symptome dazu. Immer wieder wurde ihr schwarz vor den Augen, und sie stürzte. Das machte ihr Angst. Über die Jahre war sie bei verschiedenen Spezialisten, von Neuro- bis Rheumatologie, sie war in Therapien, Krafttrainings und Kuren. Eine richtige Diagnose hat sie nie bekommen. Irgendwann wurde klar, dass die Lähmungen und die Spastik nicht besser, sondern immer schlimmer werden – also nicht mehr umkehrbar sind. 

Bei einem Ausflug in die Berge als Zweijährige auf dem Arm meiner Mami.
Foto: Privat

Genauso wie ihre Entscheidung. Nachdem sie Exit ihren Sterbewunsch mitgeteilt hat, dauert es knapp drei Wochen bis zum Termin. Die Zeit bis dahin ist für mich die schwierigste. Wie verbringt man diese letzte Lebenszeit eines geliebten Menschen? Spricht man über das Sterben, und wie?

Meine Mutter hat keine Bucketlist, also Dinge, die sie noch tun will. So wie in den Filmen, in denen Todkranke aus dem Krankenhaus ausbüxen und noch wilde Abenteuer erleben. Wir gehen nicht mit ihr Schiff fahren oder unternehmen sonst etwas Besonderes. Dafür fehlt ihr schlicht die Energie, sie hat den langen Kampf aufgegeben, ihr Lebenswille und auch ihre Freude sind erloschen.

Als wir drei Geschwister dieses letzte Mal gemeinsam mit ihr um den Tisch sitzen, ist die Stimmung bedrückt. Drei Stunden sind wir dort, ohne über das zu sprechen, was wie ein rosa Elefant im Raum steht, den Tod. Meine Mutter sagt nur: «Danach kommt nichts mehr.» Dass unsere Mutter zu diesem Zeitpunkt nicht mit uns Kindern über ihren Entschluss diskutieren will, das respektieren wir. 

Kein «gewöhnlicher» Tod

Den langen Weg zu dieser schwerwiegenden Entscheidung ist sie gemeinsam mit ihrem Partner René gegangen; die Exit-Begleiterin hat das Paar bereits drei Monate zuvor besucht. Daraufhin stellte die Hausärztin auf Wunsch meiner Mutter das Rezept für Natrium-Pentobarbital aus. Jetzt hat sie die Freiheit, Exit jederzeit für einen Termin zu kontaktieren.

Für ihren Partner ist es am schwersten, er verliert seine Lebensgefährtin, der er besonders in der Zeit ihrer Krankheit nahe war. Und dann ist es kein «gewöhnlicher» Tod, sondern zu einem bestimmten Datum, in der eigenen Wohnung, im Sessel, in dem sie jeden Tag neben ihm gesessen ist. Dass er bereit ist, seine Erna gehen zu lassen, zeigt mir, dass es ihr noch viel schlechter geht, als sie es uns Kinder spüren lässt. 

Meine Mutter Erna mit ihrem Lebenspartner René; sie waren 20 Jahre lang ein Paar.
Foto: Privat

Noch eine Woche bis zum 6. Juni, dem Datum, an dem sie gehen wird. Was mich und meine Geschwister umtreibt: Ist es unserer Mutter wirklich ernst damit? Zwar hat sie immer wieder von Exit gesprochen, aber ich habe es ihr nie so ganz abgenommen. Meine Schwester telefoniert mit der Freitodbegleiterin von Exit, das Gespräch bringt mehr Klarheit. Susanna Schmid versichert, dass unsere Mutter ihren Sterbewunsch ganz deutlich geäussert hat. Was uns überrascht: In den 15 Jahren, seit die ehemalige Jugendanwältin für Exit Freitodbegleitungen macht, hat noch keine Person am vereinbarten Tag ihren Entschluss rückgängig gemacht. Obwohl das auch dann noch zu jedem Zeitpunkt möglich ist, bis zur letzten Sekunde. 

Ich telefoniere mit meiner Mutter, um ihr zu versichern, dass ich sie voll unterstütze. Meine ältere Schwester und ich wollen sie dabei begleiten – wenn sie das möchte. Meinem Bruder geht es emotional zu nahe, er mag nicht zuschauen, wie seine Mutter diesen Schritt tut. Dafür haben wir volles Verständnis.

Auch meiner Mutter behagt die Vorstellung, dass wir Kinder ihr beim Sterben zusehen, zunächst nicht. Sie sagt meiner Schwester und mir erst wenige Tage vor dem Termin zu. Zum ersten Mal wird mir bewusst, wie sehr Krankheit und Tod auch mit Scham verbunden sind, es ist etwas sehr Intimes.

Bei einer Familienfeier: mit meiner Mutter Erna vor 30 Jahren.
Foto: Privat

Ich frage sie, ob sie nicht doch noch mit einer Seelsorgerin sprechen oder eine Seelsorgerin dabeihaben möchte? Sie verneint. Nur eine Frage scheint sie zu beschäftigen: «Wie ist das, wenn man vor seiner Zeit geht?»

Auch wenn meine Mutter nicht religiös ist, macht sie sich Gedanken über das, was nicht nur in unserer christlichen Kultur eine Sünde ist: den Freitod. Ich bespreche mich mit einer Pfarrerin aus meinem Bekanntenkreis, die schon Sterbebegleitungen gemacht hat, auch mit Exit. Sie beruhigt, solche Dogmen seien überholt: «Wir dürfen selber entscheiden, wann wir gehen wollen. Es ist eine absolut natürliche Entscheidung. Deine Mutter geht nicht vor ihrer Zeit, sondern sie geht genau zu ihrer Zeit.» 

Meine Schwester telefoniert oft mit unserer Mutter, auch am letzten Abend. Erna sagt: «Ich bin nicht sicher, ob ich das morgen schaffe.»

Die letzte Stunde ist schnell um

Tags darauf treffen wir um 9 Uhr in der Wohnung von meiner Mutter und ihrem Partner ein, es ist so weit. Es gibt Kaffee, meine Mutter trinkt keinen mehr. Wir sprechen über Organisatorisches, den Nachlass, wer sich um was kümmern wird. Irgendwie hilft das Sachliche, damit die Emotionen nicht hochkommen. Dennoch ist Raum dafür. Ich umarme meine Mutter, sage ihr, wie sehr ich sie liebe und wie dankbar ich ihr bin. Wir versichern ihr einmal mehr, dass wir voll und ganz hinter ihr und ihrer Entscheidung stehen. 

An der Abschiedsfeier für meine Mutter Erna: im Hintergrund ein altes Foto mit uns drei Kindern.
Foto: Privat

Die Stunde ist schnell um. Es ist 10 Uhr, als der Tod an der Tür klingelt. Ich sehe die Freitodbegleiterin zum ersten Mal. Susanna Schmid begrüsst uns alle mit einem freundlichen Lächeln und ernsthaften Händedruck. Dann kommt sie zügig zur Sache. Sie erklärt nochmals den Ablauf, klappt ihr Köfferchen auf und bittet um zwei unterschiedliche Gläser, damit es keine Verwechslung gibt. In das eine kommt ein Medikament gegen Erbrechen, im anderen rührt sie später das Narkosemittel an.

Die Generalprobe

Meine Mutter setzt sich in ihren Lieblingssessel. Schmid überreicht ihr das erste Glas und erklärt: «Das ist quasi die Generalprobe. Trinken Sie zügig, aber nicht hastig. Wenn Sie den ersten Schluck genommen haben, dann trinken Sie bitte alles zu Ende. Genau so tun Sie das nachher mit dem Sterbemittel.»

Es dauert etwa 20 Minuten, bis das Antibrechmittel wirkt. Was immer wir ihr noch zu sagen haben, tun wir jetzt. Die Sterbebegleiterin hat uns darauf hingewiesen, dass es nach der Einnahme der zweiten Flüssigkeit sehr schnell gehen kann und es dann zu spät sein wird für letzte Worte. Wir verabschieden uns, küssen ihre Wangen, halten ihre Hände, ich umarme sie und flüstere nochmals in ihr Ohr, wie gern ich sie habe und dass alles gut wird. Meine Mutter unterzeichnet die Freitod-Erklärung, in der sie kundtut, dass sie diesen Schritt freiwillig macht, im Beisein von uns als Zeugen. 

Dann ist es so weit. Susanna Schmid überreicht meiner Mutter das zweite Glas und fragt sie noch einmal, ob sie bereit ist. Und wiederholt, dass sie ihren Entschluss noch immer ändern kann. René steht hinter meiner Mutter, so als ob er ihr den Rücken stärken möchte, meine Schwester und ich sind neben ihr. Die Antwort kommt klar: «Ja, ich bin parat.» Sie zögert keine Sekunde. Zwei Schlücke, das Glas ist leer.

Atemlose Stille im Raum. Man meint, die Zeit ticken zu hören. Meine Mutter beginnt noch einen Satz, dann kippt schon ihr Kopf nach hinten, um für immer einzuschlafen. Meine Schwester hält ihr Handgelenk, um den Puls zu fühlen, ich lege meine Hand sanft auf ihr Herz, René sitzt ihr gegenüber und hält ihre Füsse. Jeder von uns ist auf seine Weise mit ganzer Aufmerksamkeit bei ihr, in Stille. Es dauert etwa 10 Minuten, bis ihr Herz aufhört, zu schlagen.

Ein Ende ohne Schmerzen

Die Sterbebegleiterin fühlt den Puls am Hals, dann nickt sie uns bestätigend zu. Den Tod offiziell festzustellen, dafür ist nachher die Polizei zuständig.

Es ist ein gnädiger Tod. Auch ohne religiöse oder spirituelle Begleitung verleihen der klare Ablauf und die ruhige Präsenz von Susanna Schmid dem Geschehen etwas Rituelles.

Meine Mutter liebte Hunde, insbesondere weisse Pudel – dieser gehörte einer Freundin.
Foto: Privat

Es ist 10.40 Uhr. Nur 40 Minuten sind vergangen, seit die Freitodbegleiterin durch die Tür gekommen ist. Es hat sich viel länger angefühlt. Ich rufe meinen Bruder an, Schmid informiert die Behörden. Sie hat uns bereits vorgewarnt, dass es dauern kann, bis sie hier sind. Wir dürfen nichts mehr berühren oder verändern und setzen uns auf die Terrasse, machen einen Kaffee.

Im Altersheim nebenan gibt es angeblich die besten Erdbeertörtli. Meine Schwester und ich laufen runter, erleichtert, für einen Moment wegzukommen. Als wir in die Kantine kommen und mir dieser typische Geruch von Desinfektionsmittel in die Nase kommt, spüre ich im tiefsten Inneren, dass meine Mutter die richtige Entscheidung für sich getroffen hat. Sie hat in ihrem Leben viele Schmerzen ausgehalten. Ihr Ende aber war schmerzfrei.

Dann kommt für uns das lange Warten. Es ist Mittag, die Sonne brennt auf die Terrasse, es ist gefühlt über 30 Grad. Ich spaziere mit meiner Schwester ins Dorf, wir kaufen einen Single-Malt-Whisky für den Partner meiner Mutter, davon wird er erst abends ein Glas trinken. Und etwas Kleines zum Mittagessen. Ausserdem ein Los am Kiosk, ich habe es bis heute noch in meiner Tasche. Es ist erstaunlich, wie gewöhnlich das Leben im Augenblick des Todes ist – und wie kostbar. Das Erdbeertörtli schmeckt wie das beste, das ich je gegessen habe.

Erst um 14.30 Uhr treffen der Kantonspolizist und die Gerichtsmedizinerin ein. Sie kondolieren uns, beide sind angenehm zurückhaltend. Die Beamten lassen die Storen ganz hinunter, schliessen die Tür, wir gehen alle auf einen Spaziergang ums Haus. Anschliessend kommt das Bestattungsunternehmen. Eine junge Frau und ein Mann, beide tragen hellrosa Polo-Shirts. Sie schaut mich mitfühlend an und sagt: «Ich weiss, dass das sehr schwer für Sie sein muss.» Es ist das erste Mal, dass ich so richtig losheule.

Das Lieblingsfoto meiner Mutter als Erinnerung bei mir daheim.
Foto: Privat

So gut wir uns auf den Tod unserer Mutter vorbereiten konnten, das Danach ging dabei etwas unter. Die Bestatterin fragt, ob meine Schwester und ich beim Einsargen helfen möchten. Wir schauen uns kurz an und nicken.

Ich suche etwas Passendes zum Anziehen für meine Mutter, ein rosa T-Shirt und eine Jogginghose mit Leo-Muster, ein Foulard mit Schmetterlingen, dazu eine goldene Brosche mit einem Pudel, die ich ihr einst schenkte – sie liebte Hunde. Ich zünde Kerzen und ein Räucherstäbchen an und lasse Mantra-Musik laufen. Wir helfen beim Waschen, kämmen ihr Haar und ziehen ihren Lippenstift nach. Meine Mutter war immer eine sehr gepflegte Erscheinung, so soll es bis ganz am Ende sein. Wir legen Rosenblätter zu ihr in den Sarg, kreuzen ihre Hände über dem Herzen.

«Unsere Mami hatte Eier»

Für uns beide ist das eine völlig neue Erfahrung, keine von uns hat je einen Leichnam berührt. Es fühlt sich ganz natürlich an, es bleibt für mich der einprägendste Moment an diesem Tag. Das Wort «begreifen» bekommt einen tieferen Sinn, diese körperliche Nähe hilft, zu verstehen, dass unsere Mutter tatsächlich gegangen ist.

Die Garderobe für die letzte Reise: ein rosa T-Shirt mit einer goldenen Pudelbrosche, die ich meiner Mutter mal schenkte.
Foto: Privat

Als wir uns abends voneinander verabschieden, sage ich zu meiner Schwester: «Unsere Mami hatte Eier.» Mich hat es sehr beeindruckt, wie meine Mutter gegangen ist. Mutig, klar, selbstbestimmt und in Würde. Sie hatte nichts dagegen, dass ich über ihren letzten Tag schreibe. Sie sagte nur: «Wenn du möchtest. Mir ist das egal.» Für sie spielt das keine Rolle mehr. Für uns Hinterbliebene und für Leserinnen und Leser aber kann ihre Geschichte eine Bedeutung haben.

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